Sie stehen seit langem im Kern der Europäischen Gebildes. Können Sie uns helfen zu verstehen, welche Veränderungen die russischen Invasion in die Ukraine losgestoßen hat ? Was hat sich am vergangenen Wochenende in Brüssel abgespielt?

Ich glaube, wir sind Zeugen eines weiteren Schrittes der Wandlung der EU zu einer wirklichen Macht geworden. Die militärische Hilfe für die ukrainische Armee auf europäischem Niveau in Höhe von 500 Millionen Euro ist ein wichtiger symbolischer Schritt. Jenseits der symbolischen Ebene ist der bedeutsamste Punkt an diesem Prozess das europäische Sanktionspaket, das beispiellos und sehr massiv ist.

Putin belagert Kiew, wir belagern die russische Ökonomie, das ist seine Schwachstelle gegenüber seiner militärische Macht. Die Sanktionen auf das Finanzsystem implizieren die Etablierung eines Kräfteverhältnisses zwischen dem russischen Militärschlag gegen die Ukraine und der wirtschaftlichen Antwort des Westens.

Glauben Sie, dass diese Form der Gegenwehr eine konkrete Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Ukraine bewirken wird? Wie groß ist die Gefahr, dass eine Verlagerung des Konflikts zu einer Eskalation führt?

Ich denke nicht, dass ein Kampf dieser Art Putin Vorteile bringt, und ich glaube, dass das Kräfteverhältnisse langfristig nach der westlichen Seite kippt. Da stimme ich dem Artikel von Jeangène-Vilmer zu, Putin hat den Krieg bereits verloren und genau da liegt das Problem. Man spricht nicht genug vom Ausgang der Krise, obwohl diese Frage dringlich ist. Entweder wird Putin durch eine interne politische Destabilisierung Russlands gestürzt, das erscheint mir derzeit unwahrscheinlich, oder man wird ihm einen Ausweg anbieten müssen, sobald ein günstiges Kräftegleichgewicht erreicht ist. Bis dahin muss wahrscheinlich ein Stopp der russischen Öl- und Gasimporte durchgesetzt werden, den die Öffentlichkeit in mehreren Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, fordert.

Die Sanktionen auf das Finanzsystem implizieren die Etablierung eines Kräfteverhältnisses zwischen dem russischen Militärschlag gegen die Ukraine und der wirtschaftlichen Antwort des Westens.

Pascal Lamy

Bleiben wir für einen Moment bei der EU. Durchläuft sie einen “Wendepunkt” ?

Ja und Nein. Es ist nicht “der” eine Moment, der alles ändert. Wie Ihre letzte Karte zeigt, gibt es eine bei rein westfälischen Einheiten nie gesehene gemeinschaftliche Einigkeit, doch man darf nicht träumen. Die Verwendung von Geldern aus dem Unionshaushalt für Verteidigungsausgaben bleibt durch die Verträge verboten. Es sind deshalb die Mitgliedstaaten, die sich verpflichten, der Ukraine im Rahmen einer außerbudgetären europäischen Maßnahme Militärhilfe zukommen zu lassen.

Im Grunde ist wie mit dem europäischen Konjunkturprogramm 2020, das zwar nicht “der” hamiltonsche Moment war, den manche darin sahen, aber durchaus ein Wendepunkt. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, in einer Abfolge von Ereignissen, die den Weg der Union zur Macht, im gramscianischen Sinne, abstecken und zur Konkretisierung einer europäischen Kapazität, für die Draghis berühmtes “whatever it takes”  einen weiteren Schlüsselmoment darstellt.

Diese drei Übergänge scheinen jeweils Tabus zu umgehen, die in einer besonderen Beziehung zur Rolle Deutschlands stehen …

Tatsächlich musste sich in diesen drei Momenten die deutsche Position zugunsten der Entwicklung der EU verschieben.

Als Mario Draghi 2012 den berühmten Satz “whatever it takes” sprach, übertrat er damit die Bestimmungen des Maastrichter Vertrages bezüglich der Monetisierung von öffentlichen Schulden in der Eurozone, während die Deutschen für ihre Zustimmung zum Vertrag explizit diese Garantie verlangt hatten. 2020 fiel mit dem Programm Next Generation EU ein zweites deutsches Tabu, denn Angela Merkel hatte regelmäßig gesagt, dass sie unter keinen Umständen eine gemeinsame europäische Verschuldung akzeptieren werde. Sonntagvormittag fiel in Deutschland ein drittes Tabu, als Bundeskanzler Scholz die militärische Stärkung des Landes ankündigte.

Wie erklären sie diesen deutschen Wandel?

Jede dieser Entwicklungen wurde durch eine Reihe von narrativen Verschiebungen eingeleitet. Als Angela Merkel erklärte, dass wir mit Donald Trump unsere Sicherheit selbst gewährleisten müssen, hat sie einen Schock in der deutschen Politik verursacht, der den Weg für Rede von Olaf Scholz geebnet hat. Der frühere Bundesminister für Wirtschaft und Energie Peter Altmaier hat den Umschwenken der Brüsseler Ideologie hin zur Industriepolitik ermöglicht….

Zusammengenommen weisen diese narrativen Verschiebungen in Richtung einer größeren europäischen Integration, mit Ausnahme des Brexits, doch auch den könnte man als ein wegbereitendes Ereignis betrachten.

Treibt man die Analyse Deutschlands etwas weiter, so sieht man, dass es die eher konservativen Regierungen waren, welche die Haushalts- und Finanzheterodoxie schlucken mussten, und nun eine eher linke Regierung dabei ist, mit der pazifistische Orthodoxie Deutschlands zu brechen. 

In Deutschland mussten die eher konservativen Regierungen, die Haushalts- und Finanzheterodoxie schlucken, und nun ist eine eher linke Regierung dabei, mit der pazifistische Orthodoxie zu brechen. 

Pascal Lamy

Ein überraschender Aspekt an Rede von Olaf Scholz, der bereits im deutschen Koalitionsvertrag sowie in dessen Vorprogramm erkennbar war, ist, dass Begriffe wie “Autonomie” und “Souveränität”, die von  Annegret Kramp-Karrenbauer, der vermeintlichen Thronfolgerin Angela Merkels, abgelehnt wurden, heute zum Kern der deutschen Software geworden sind. 

Es steht außer Frage, dass die Rede vom Sonntagvormittag ein Schlüsselmoment für Deutschland und damit ein Richtungswechsel für Europa ist.

Ist es ein französischer Richtungswechsel? 

Die französische Haltung bezüglich der europäischen Dynamik bestand immer darin, die Erinnerung an die nationale Macht gegen das Projekt einer Umgestaltung dieser nationalen Mächte auf europäischer Ebene auszutauschen. Dies war einer der Gründe, aus denen de Gaulle sich dem Bündnis anschloss – und auch aus wirtschaftlichen Gründen, die ihm weniger geläufig waren.

Schon immer gibt es die Idee eines “Europe Grande France”, eines Europas durch das Frankreich “Great Again” würde. Es ist die Idee de Gaulles, Mitterrands, Macrons. Die Idee, dass die öffentliche Macht eine Rolle in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, spielt, die über die Empfehlungen des Ordoliberalismus hinausgeht, war immer eine französische. In dieser Hinsicht hat Frankreich sich nicht bewegt, vielmehr hat sich Deutschland unter dem Druck der äußeren Ereignisse an eine gewisse französische Idee von Europa angepasst. 

Auch Frankreich hat sich in dieser Dynamik sehr verändert…

In der Tat. Dass Frankreich sich im Gegenzug dem Ordoliberalismus genähert hat, ist nicht zu leugnen und ist trotz der französischen Kultur geschehen, etwa die Wettbewerbspolitik des Vertrags von Rom. Als die Franzosen wenige Jahrzehnte später begriffen, dass im Text eines neuen Verfassungsvertrages der “freie und unverfälschte Wettbewerb” vorkam, stimmten sie dagegen. Die Mehrheit der öffentlichen Meinung war der Ansicht, dass dies nicht in Ordnung sei, dass es ein voranschreitender Liberalismus sei. In Wahrheit war es der voranschreitende Ordoliberalismus und es gibt einen Unterschied zwischen Liberalismus und Ordoliberalismus, der offensichtlich ist, wenn man Deutschland ein wenig kennt. 

Langfristig betrachtet hat die französische Position sich deutlich in Richtung Ordoliberalismus bewegt und die deutsche Position in Richtung eines Europas, das von der Macht begrenzt ist. Wenn man die Rede von Scholz  liest, sieht man, dass er nicht glücklich war, dass er keine glänzende Zukunft Deutschlands voraussieht, wenn es sich durch die Verdoppelung des Militärhaushalts dem Weg der Macht verschreibt. Der Tenor seiner Rede war eher “wir hätten vielleicht gesollt, wie haben nicht, also müssen wir jetzt”. Das erinnert eher an Churchill als an Hugo.

Langfristig betrachtet hat die französische Position sich deutlich in Richtung Ordoliberalismus bewegt und die deutsche Position in Richtung eines Europas, das von der Macht begrenzt ist.

Pascal Lamy

Daher stammt diese aktuelle und sehr französische Ironie im Duktus “sie haben endlich verstanden, was wir schon immer verstanden haben” – was wir immer wieder sagen, aber ohne in der Lage zu sein, Konsequenzen daraus zu ziehen – nämlich, dass es Zeit wurde, dass die Europäer erwachen und verstehen, dass wir in einer brutalen Welt leben.

Die Geopolitik schreitet vom Wort zur Tat…

Es stimmt, dass solange Deutschland mit Frankreich und Russland in Frieden lebte, die geopolitische Dimension weitgehend aus dem ideologischen Universum Deutschlands verschwunden war. Man konzentrierte sich auf die Wirtschaft. Der Schock der sonntäglichen Rede liegt darin, dass sich zum ersten Mal seit langer Zeit einer dieser beiden Frieden in einen potentiellen Krieg gewandelt hat. 

Auf diesen Druck wird die deutsche Politik meiner Ansicht nach reagieren. Ich glaube nicht, dass dies nur eine weitere Rede über die unentwegt verschobene Erhöhung der Verteidigungsausgaben war. Es ist enorm viel zu tun, um Deutschland adäquat zu remilitarisieren, es genügt nicht, 50 oder 100 Milliarden mehr in eine Verteidigungsbudget zu stecken und schon hat man Soldaten. Es bedarf einer strategischen Kultur und einer operationalen Kapazität. Es besteht ein Unterschied zwischen der Fähigkeit Ausrüstung zu finanzieren und der militärischen Leistung im Feld.  

Ich denke, man muss diese zeitliche Dimension berücksichtigen und den Prozess beobachten, indem wir uns befinden und in dem wir mit der Vorbereitung der Sanktionen und der deutschen Rede am Sonntag einen Schritt weitergekommen sind.

[Seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine haben wir mit unseren Karten, unseren Analysen und unseren Artikeln mehr als 1,5 Millionen Menschen geholfen, die geopolitischen Transformationen der kommenden Welt zu verstehen. Wenn Sie unsere Arbeit hilfreich finden und denken, dass sie Unterstützung verdient , können Sie hier ein Abnnement abschließen.] 

Könnte man sagen, dass wir uns heute in einem “schmitt’schen Moment” befinden, gezeichnet durch das brutale Hervortreten eines gemeinsamen Feindes in der maximalen politischen Intensität des Krieges? Bricht diese Politisierung mit dem technokratischen, institutionellen, teilweise apolitischen Aspekt der Union ? Entsteht hier in der Auseinandersetzung mit Putin tatsächlich Ursula von der Leyens “geopolitische Kommission”?

Die Kommissionspräsidentin ist eine ehemalige deutsche Verteidigungsministerin. Offensichtlich ist es ein starkes Symbol, wenn sie von einem “Wendepunkt”spricht. Auch hier ist das Narrativ seiner Zeit noch etwas voraus. Doch es ist kein Problem der Realität voraus zu sein, wenn man darin eine Hoffnung ausdrückt und sich Mittel gibt, um voranzukommen. 

Persönlich glaube ich, dass wir auf dem Weg zu einer europäischen Macht nach und nach verschiedene Rubikons überschreiten, wenn ich so formulieren darf. Die besonderen Umstände der russischen Invasion in die Ukraine ermöglichen in gewisser Weise diese politische Energie. Doch ich unterschätze nicht die technokratische Energie, die notwendig war, um in derart kurzer Zeit ein europäisches Sanktionspaket mit den Amerikanern abzustimmen.

Persönlich glaube ich, dass wir auf dem Weg zu einer europäischen Macht nach und nach verschiedene Rubikons überschreiten, wenn ich so sagen darf. Die besonderen Umstände der russischen Invasion in die Ukraine ermöglichen in gewisser Weise diese politische Energie. Doch ich unterschätze nicht die technokratische Energie, die notwendig war, um in derart kurzer Zeit ein europäisches Sanktionspaket mit den Amerikanern abzustimmen.

Pascal Lamy

Wie erklären sie die Geschwindigkeit dieser Reaktion? Es hat Jahre gedauert, um zu Draghis “whatever it takes” zu kommen, mehrere Wochen um das Konjunkturprogramm zu entwickeln, diesmal nur wenige Tage …

“Den Mantel der Geschichte ergreifen”, so sagte Kohl mit Verweis auf Bismarck beim Mauerfall, als alle seine Berater ihm davon abrieten, die Ostmark mit der Westmark zusammenzuführen. Bis Freitag gab es Spannungen um die Positionen Italiens, Deutschlands, Irlands, die alle zunächst den Reflex hatten, ihre ökonomischen Interessen in Russland zu sichern. Und dann ist der Mantel der Geschichte vorbeigezogen.

Sie werden feststellen, dass der drei Wegmarken, die den Pfad zu einer europäischen Macht abstecken, durch äußere Ereignisse provoziert wurde. Die Subprime-Krise hat die Wirtschaft infiziert. Covid-19 hat uns infiziert. Und Putin will, dass der Krieg Europa infiziert. Es ist ganz offenkundig nicht die traditionelle europäische Kompromiss-Maschine, die diese Transformationen ausgelöst hat, dennoch sieht man, dass sie lernt, schneller zu reagieren. Daraus könnte ein anderer politischer Raum als die westfälische Welt entstehen. Ich hoffe nur, dass der Weg zur europäischen Macht – und er wird noch lang sein – nicht immer durch solche Katastrophen gepflastert sein wird.

Muss der Prozess institutionelle besser strukturiert werden, beispielsweise durch Revision der Verträge?

Ich glaube nicht, dass wir uns am Vorabend eines großen institutionellen Wandels befinden. Jeder der großen Wendepunkte hat sich mit “gleichen Institutionen” zugetragen. Wie Jacques Delors bin ich eher “Funktionalist”:  der Karren des Fortschritts zuerst, der institutionelle Ochse, um ihn zu ziehen,  bei Bedarf. Wenn dieser Krieg andauert, werden die Kollateralschäden auf wirtschaftlicher Ebene für Europa und die Welt bedeutend sein. Es ist sinnvoller mit dem Konkreten anzufangen, was die Bevölkerungen zuerst ablehnen. 

Wo anfangen? 

Zwei Maßnahmen müssen in Betracht gezogen werden: Ein ökonomisches Paket, dass dem von 2020 ähnelt, um den energetischen und inflationären Schock zu amortisieren; und ein Konzept für die europäisch-russischen Beziehungen zu entwerfen, außerhalb von Putins Ideologie, derzufolge die russische Welt der letzte Leuchtturm der westlichen Zivilisation in einer dekadenten Welt ist. 

Wir müssen uns an die russische Bevölkerung wenden, um ihnen zu sagen, dass wir bereit sind in anderen Bereichen zu arbeiten, um zurück zu den europäischen-russischen Beziehungen von vor zwanzig Jahren zu finden. Ich hatte 2004 die Gelegenheit mit Wladimir Putin zu sprechen, als wir die Beitrittsbedingungen Russlands zur WTO verhandelten, eine Integration, die aufgrund des amerikanischen Vetos fast zehn Jahre verspätet stattfand. Damals waren wir uns zwischen Europäern und Russen einig, eine Freihandelszone zwischen Russland und der EU zu schaffen. Wladimir Putin selbst hatte, entgegen eines Teils seiner Berater, auf unsere Forderung hin akzeptiert, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen. Das wird zu dem gehören, wozu die EU als geopolitische Macht im Werden in der Lage sein sollte.

Muss es für diese neue Phase ein neues Konjunkturprogramm entwickelt werden? 

Ich glaube, ja. Man muss überlegen, was der Krieg die europäische Ökonomie kosten wird. Die Russen werden von den Sanktionen am stärksten betroffen sein, doch danach ist die EU am exponiertesten für die ökonomischen Folgen der Sanktionen, sei es nur wegen der steigenden Preise für fossile Energien. Wir exportieren 90 Milliarden Euro nach Russland. Das ist nicht das Kerngeschäft der europäischen Exporte, doch es ist wichtig für rentable Branche, vor allem für die deutsche Exportwirtschaft. Unsere Länder werden ungleich betroffen sein und wir müssen solidarisch reagieren. 

Ebenso wichtig ist, dass wir fortan unseren klimapolitischen Transformationsprozess, die Dekarbonisierung, mit dem Streben nach strategischer Energieautonomie in Einklang bringen müssen, indem wir unsere Abhängigkeit von Gas schneller als geplant reduzieren. Dies erfordert eine Neuordnung des europäischen Mixes, die kostspielig sein wird, auch in Form von Investitionen.

Ebenso wichtig ist, dass wir fortan unseren klimapolitischen Transformationsprozess, die Dekarbonisierung, mit dem Streben nach strategischer Energieautonomie in Einklang bringen müssen, indem wir unsere Abhängigkeit von Gas schneller als geplant reduzieren.

Pascal Lamy

Wie sollen im Rahmen dieses neuen Plans die Frage der Flucht und allgemeiner der Beziehung der EU zur Migration behandelt werden? 

Ja, das ist sehr wichtig. Nach Schätzungen werden wir zwischen einer und fünf Millionen Geflüchtete aufnehmen müssen. Dabei stellt sich heraus, dass die östlichen Länder, die bei der Aufnahme von Flüchtlingen muslimischer Herkunft besonders zurückhaltend waren, nicht dieselbe Reaktion gegenüber den Ukrainern zeigen.

Wirtschaftlich gesehen wird es sich für Rumänien, Polen und Ungarn bei der Aufnahme dieser Bevölkerungsgruppen um eine unverhoffte demografische Dividende handeln, für Länder, deren Sorge vor der Abwanderung in andere, besser gestellte europäische Gebiete Ivan Krastev sehr gut gezeigt hat. Dies ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was dieses Paket leisten sollte.

Es ist auch zu befürchten, dass dieser Krieg Auswirkungen auf den Balkan haben wird. Im Zuge des des von ihm verursachten Schocks könnte Russland seine Fühler auch dorthin ausstrecken, was zu neuen Spannungen und neuen Migrationsbewegungen führen würde.

Die russische Invasion ist ein Ereignis, das alle Länder dazu drängt, Position zu beziehen. Dadurch werden auch tektonische Machtbeziehungen sichtbar, die sich in das Interregnum einschreiben, in dem wir uns befinden. Vor der Invasion in die Ukraine basierten unsere Analysen auf der Annahme, dass die Rivalität zwischen China und den USA die 2020er Jahre strukturiert.  Stimmt das heute noch? Wie würden Sie die neue geopolitische Konfiguration der Welt beschreiben?  

Die Antwort auf ihre Frage liegt in Peking. Die geopolitischen Konsequenzen dieses Krieges werden von der Haltung Chinas abhängen. Ich bin unsicher, ob meine Analyse der aktuellen chinesischen Position zutrifft, noch wohin sie sich entwickeln wird. Das gleiche gilt für das, was meine chinesischen Freunde sagen. 

Was China seit einer Woche macht, ähnelt einem Navigieren auf Sicht. Ich denke, dass die Situation einen wichtigen Raum eröffnet für ein China, das seine Verantwortung in der internationalen Ordnung übernehmen und die aktuelle Gelegenheit ergreifen möchte, um diese Ordnung umzugestalten. Nicht auf chinesische Weise, weil ihm die Hände gebunden sind, doch es ist in einer potentiellen Position, eine Mediatorenrolle zu spielen, welche die Geschichte ihm auf einem Tablett anbietet. 

Ich denke, dass die Situation einen wichtigen Raum eröffnet für ein China, das seine Verantwortung in der internationalen Ordnung übernehmen und die aktuelle Gelegenheit ergreifen möchte, um diese Ordnung umzugestalten.

Pascal Lamy

Im Moment profitiert China von dieser Weltordnung, auch von der WTO. Aber es ist dabei geblieben, die internationale Ordnung zu kritisieren, während es vor der Übernahme von Verantwortung außerhalb unilateraler Unternehmungen wie den Neuen Seidenstraßen oder der Asiatischen Investitionsbank zurückschreckt.

China hat heute die Gelegenheit, sich selbst voranzubringen, indem es behauptet, sowohl mit Putin als auch mit dem Westen sprechen zu können. Das setzt natürlich voraus, dass die Amerikaner der Ansicht sind, dass China mit ihnen sprechen kann, was nicht selbstverständlich ist. Es ergäbe sich jedenfalls ein Möglichkeitsfenster, vor allem da eine geächtete russische Wirtschaft unweigerlich in chinesischer Hand ist, insbesondere im Finanzbereich.

Wie lautet Ihre Prognose ?

China wird seine Karten entsprechend seiner eigenen Interessen und seiner Ideologie ausspielen. Xi Jingping scheint mir bedauerlicherweise weniger rational und zudem ideologischer als seine Vorgänger zu sein. Er könnte der Rivalität mit den Amerikanern Priorität geben und umgekehrt. Doch die Gelegenheit wäre günstig, sich weltweit als “Akteur für Frieden und Harmonie” zu profilieren, um ein chinesisches Konzept aufzugreifen.

Wird China sich irgendwann als Schiedsrichter anbieten, und wenn es das tut oder nicht tut, welche Konsequenzen wird das haben? Sicherlich ist ein Szenario denkbar, in dem China sich mit Russland solidarisiert, ein Szenario, an das ich nicht glaube, weil es zu gefährlich ist für die Zukunft der chinesischen Wirtschaft wäre, die wesentlich weltoffener ist als die russische.

In dieser Prognose zeigen Sie sich optimistisch, mit der Deutung Chinas als stabilisierende und restrukturierende Kraft statt als desorganisierende, welche die Weltordnung zum Einsturz bringen könnte. Liegt es im Interesse der EU, das Gespräch zu suchen?

Offensichtlich, denn alles was wir vorhin über diesen europäischen Fortschritt in Richtung Macht gesagt haben, haben wir unter Umständen gesagt, da die NATO all ihre Macht und ihren Glanz zurückgewonnen hat – eine transatlantische Stimmung, die von Neuem auf den Prüfstand gestellt werden könnten, wenn Trump und Konsorten 2024 wieder ins Amt kommen, was passieren könnte.  

In unserem ersten Interview sagten Sie, dass die Union um souverän zu sein, vom “Kegel zum Zylinder” werden müsse. Glauben Sie, dass diese geometrische Operation begonnen hat?

Ja, ein Schritt ist getan. Der europäische Kegel – dessen Basis die Ökonomie ist und die Spitze die Kriegsführung – nähert sich dem Zylinder der Souveränität an. Doch es bleibt ein weiter Weg zu gehen, technologisch, militärisch und konzeptuell, wie am berühmten strategischen Kompass zu sehen ist. Wir befinden uns noch im Kegel. Auch wenn die Mitte begonnen hat, sich auszuweiten, ist der zylindrische Zustand noch nicht erreicht. Ein bisschen wie ein Brioche, um im Bild zu bleiben. Wenn man sich die europäische Verteidigung ansieht, gibt es noch viele Fragen, die angegangen werden müssen, sei es die Beziehung zur NATO oder die Rolle der Atommacht Frankreich in Europa.

Ich denke, dass der Weg zu einer europäischen Verteidigung noch sehr weit ist, aber die russische Aggression in der Ukraine beweist, dass die militärische Handlung tatsächlich durch die Ideologie der europäische Außen- und Sicherheitspolitik erfolgt. Dass wir so weitreichende Sanktionen gegen Russland mit der einstimmigen Zustimmung aller Mitgliedstaaten beschließen konnten, einschließlich Viktor Orbans putinfreundlichem Ungarn, ist auf eine veränderte Wahrnehmung der russischen Bedrohung zurückzuführen.

Heute gibt es in Europa keinen Zweifel mehr daran, dass Wladimir Putin ein Gegner Europas und des Westens ist. So hat man eine gemeinsame Wahrnehmung, die sich in der Union durchsetzt.

Pascal LAmy

Wir sind endlich dabei, die gleichen Bedrohungen wahrzunehmen, notwendige Voraussetzung, um eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu entwickeln. Heute gibt es in Europa keinen Zweifel mehr daran, dass Wladimir Putin ein Gegner Europas und des Westens ist. So hat man eine gemeinsame Wahrnehmung, die sich in der Union durchsetzt. Noch steht sie im Widerspruch zu ihren militärischen Kapazitäten. Es ist eine verschachtelte Angelegenheit: eine Außenpolitik, innerhalb einer Sicherheitspolitik, innerhalb einer Verteidigungspolitik. Man erkennt, dass diese Politiken alle in dieselbe Richtung ausgerichtet sind, auch Deutschland und Schweden, die bis vor wenigen Wochen noch strikt gegen Waffenlieferungen an die Ukraine waren. Die Einigkeit in der Wahrnehmung der Bedrohung hat somit die Idee aufkommen lassen, dass die militärische Komponente notwendig für die europäische Macht wird. Um sich zusammenzuschließen, müssen die Europäer nicht nur ihre Träume teilen, sondern auch ihre Albträume.