Der Krieg gegen die Ukraine beweist, dass Europa noch gefährdeter ist, als wir vor wenigen Monaten dachten. Russlands brutale Invasion der Ukraine ist nicht nur ein unbegründeter Angriff auf einen souveränen Staat, der sich für seine Rechte und seine Demokratie einsetzt, es ist auch die größte Herausforderung für Europas Sicherheitsordnung seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Auf dem Spiel stehen jene Prinzipien, auf denen die Internationalen Beziehungen errichtet sind, nicht zuletzt die der UN Charta und der Schlussakte von Helsinki.

In Krisen kristallisieren sich Entwicklungen heraus und diese zeigt klarer denn je, dass wir in einer Welt leben, die von roher Machtpolitik geformt ist, in der alles als Waffe verwendet werden kann und in der wir einem heftigen Kampf der Narrative ausgesetzt sind. All diese Entwicklungen zeichneten sich bereits vor dem Ukrainekrieg ab; jetzt beschleunigen sie sich rapide.

Das bedeutet, dass auch unsere Antwort darauf schnell erfolgen muss – und das ist geschehen. Wir haben über das gesamte politische Spektrum hinweg schnell gehandelt und dabei mehrere Tabus gebrochen: nie dagewesene Sanktionen, massive Unterstützung der Ukraine, darunter – zum ersten Mal überhaupt – die Finanzierung von Waffenlieferungen in einen unter Angriff stehenden Staat. Zudem haben wir eine breite internationale Koalition gebildet um die Ukraine zu unterstützen, Russland zu isolieren und international die Legalität wiederherzustellen. Nach allen Standards war die Antwort der EU beeindruckend, selbst wenn sie immer noch nicht ausreicht, da der Krieg weitergeht. 

Wir navigieren immer noch in einem Interregnum.

Josep BorrelL

Wir wissen nicht wie und wann dieser Krieg beendet sein wird. Wie der Grand Continent in seiner jüngst erschienenen Printausgabe schreibt, navigieren wir immer noch in einem Interregnum1. Doch wir können bereits sagen, dass der Ukraine Krieg 2022 die verspätete Entstehung einer geopolitischen EU herbeiführte. Seit Jahren debattieren die Europäer darüber, wie die EU sicherheitsbewusster gemacht werden kann, mit einem gemeinsamen Ziel und gemeinsamen Kapazitäten um ihre politischen Ziele auf der Weltbühne zu verfolgen. Wir sind auf diesem Weg in den letzten Wochen unbestritten weiter gekommen als in der vorangegangenen Dekade. Dies ist zu begrüßen, doch wir müssen sicherstellen, dass das geopolitische Erwachen der EU zu einer permanenten strategischen Position wird. Denn es gibt so viel mehr zu tun, in der Ukraine und anderswo. 

Europa als hard power 

Ich bin überzeugt, dass die EU mehr werden muss als soft power: Wir brauchen mehr hard power. 

Allerdings dürfen wir das Konzept der hard power nicht auf militärische Mittel reduzieren: es gilt die gesamte Bandbreite unserer Mittel zu nutzen um unsere Ziele zu erreichen. Das bedeutet, es geht darum in Machtbegriffen zu denken und zu handeln. Schritt für Schritt werden nun die Bedingungen dafür erfüllt.

Erstens gibt es unter den Europäern ein wachsendes Bewusstsein für die Bedrohungen denen sie gemeinsam gegenüberstehen und den Grad zu dem ihre Schicksale miteinander verwoben sind. Heutzutage kann niemand in Europa glauben, dass das, was in der Ukraine passiert, ihn nicht betrifft, egal wie weit weg er davon entfernt ist. Deswegen ist unsere Unterstützung für die Ukraine nicht einfach ein Akt der Solidarität, sondern auch ein Weg um unsere gemeinsamen Interessen zu verteidigen und uns in Selbstverteidigung gegen einen schwerbewaffneten und rücksichtslosen Aggressor zu erheben. 

Zweitens hat die Bevölkerung Europas ein nie dagewesenes Wohlstandsniveau erreicht, das durch die EU-Mitgliedschaft weiter ansteigt. Dies macht Europa zu einem von Grund auf friedlichen Raum, der auf dem Prinzip basiert, dass Interdependenz Frieden und Wohlstand hervorbringt. Doch eine der Lehren des Ukraine-Kriegs lautet, dass ökonomische Interdependenz alleine unsere Sicherheit nicht garantieren kann. Im Gegenteil, sie kann gegen uns instrumentalisiert werden. Wir müssen deshalb bereit sein, gegen jene vorzugehen, die Vorteile der wirtschaftlichen Vernetzung ausnutzen wollen um uns zu schaden oder Krieg zu führen. 

Eben das geschieht heute. Mit beispiellosen Sanktionen gegen die russische Invasion der Ukraine erhöhen wir die Kosten einer Aggression, so dass sie immer unbezahlbarer werden. Gleichzeitig müssen wir unsere Resilienz erhöhen und unsere strategischen Schwächen verringern, sei es in Bezug auf kritische Infrastruktur, Rohstoffe, medizinische Produkten oder in anderen Bereichen.

Eine der Lehren des Ukraine-Kriegs lautet, dass ökonomische Interdependenz alleine unsere Sicherheit nicht garantieren kann. Im Gegenteil, sie kann gegen uns instrumentalisiert werden.

Josep Borrell

Überall in der EU ist man fest entschlossen, die richtigen Lehren aus dieser Krise zu ziehen. Dazu gehört, dass wir uns endlich ernsthaft  mit den Bedrohungen unserer strategischen Interessen auseinandersetzen, die uns bekannt waren, ohne dass wir auf sie reagiert haben. Energie zum Beispiel. Wir wissen seit Jahren, dass Energie eine überproportionale Rolle in den europäisch-russischen Beziehungen spielt und dass Russland Energie als politische Waffe benutzt. Jetzt sind wir in vollem Umfang mobilisiert, um unsere übermäßige Abhängigkeit von russischen Energieexporten zu verringern (Öl, Gas und Kohle).

Der Krieg in der Ukraine macht es auch dringlicher, einen Schritt nach vorne in der Frage der Sicherheit und Verteidigung der EU zu machen. Der zentrale Punkt, der dabei unterstrichen werden muss, ist, dass die Sonderinvestitionen der EU-Mitgliedstaaten – die sehr zu begrüßen sind – besser in der EU und der NATO koordiniert werden müssen. Wir sollten nicht nur alle mehr ausgeben; wir sollten mehr gemeinsam ausgeben. 

Eine neue Welt der Bedrohungen

Der Ukraine-Krieg ist die schwerste Sicherheitskreise in Europa seit Jahrzehnten, doch die Bedrohungen für Europas Sicherheit kommen sicherlich aus verschiedenen Richtungen, manche aus dem Inneren der EU, andere von außen. Unsere Sicherheitsinteressen sind im westlichen Balkan, in der Sahel-Zone, im weiteren Mittleren Osten, im Indo-Pazifik, etc. gefährdet.

Während der Ukraine-Krieg weiter wütet und einen furchtbaren Preis fordert, dürfen wir nicht vergessen, dass es in der Welt viele Situationen gibt, in denen wir mit hybriden Taktiken und intermediären Dynamiken des Wettbewerbs, der Einschüchterung und des Zwangs konfrontiert sind. In der Ukraine und anderswo sind die Werkzeuge der Macht nicht nur Soldaten, Panzer und Flugzeuge, sondern auch Finanzsanktionen, Import- und Exportverbote, Energieströme, Desinformationen und ausländische Einmischungsoperationen.

Zudem haben wir in den letzten Jahren gesehen, wie Migration instrumentalisiert, Armeen privatisiert und die Kontrolle von sicherheitsrelevanten Technologien politisiert wurden. Nimmt man dazu die Dynamiken des Staatsversagens, die Rücknahme demokratischer Freiheiten und die Angriffe auf ‘globale Gemeingüter’ wie den Cyperspace, die Hochsee und den Weltraum, dann kann es nur einen Schluss geben: die Verteidigung Europas bedarf eines umfassenden Sicherheitskonzeptes.

Dankenswerterweise gibt es heute mehr Bewusstsein und Einigung in Europa mit Blick auf die Bedrohungen, die vor uns liegen – ebenso wie einen Prozess der strategischen Konvergenz in der Frage, was zu tun ist. 

In der Ukraine und anderswo sind die Werkzeuge der Macht nicht nur Soldaten, Panzer und Flugzeuge, sondern auch Finanzsanktionen, Import- und Exportverbote, Energieströme, Desinformationen und ausländische Einmischungsoperationen.

Josep Borrell

Der strategische Kompass – ein Sprung nach vorne für die europäische Sicherheit und Verteidigung

Wenn wir vermeiden wollen, unbeteiligte Zuschauer zu sein in einer Welt, die von und für andere gestaltet wird, müssen wir handeln – und zwar gemeinsam. Das ist die Philosophie des strategischen Kompass, den ich letzten November vorgestellt habe und der am 21. März von den europäischen Außen- und Verteidigungsministern verabschiedet wurde2. Es gibt viele Details in diesem Kompass, der 47 Seiten umfasst und vier Handlungsfelder (“Handeln”, “Sichern”, “Investieren” und “Mit Partnern zusammenarbeiten”) betrifft. Lassen Sie mich nur einige zentrale Ideen hervorheben:

Um unsere Handlungskapazität zu stärken, werden wir daran arbeiten, unsere Krisenmissionen und Operationen zu stärken und eine EU Rapid Deployment Capacity entwickeln, die es ermöglicht im Krisenfall rasch bis zu 5000 Soldaten einzusetzen. Durch regelmäßige Live-Übungen (die es bisher auf EU-Ebene nicht gab) werden  wir die Bereitschafts unserer Truppen erhöhen, unsere Kommando- und Kontrollstrukturen stärken und schnellere, flexiblere Entscheidungswege fördern. Wir werden unsere Kapazität zur Abwehr von Cyberbedrohungen, Desinformationen und fremder Einmischung ausweiten. Und wir werden unsere Investitionen in notwendige strategische Voraussetzungen und neueste Verteidigungsfähigkeiten ausweiten. Das steigert die Fähigkeit der EU, die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten und zugleich wird sie eine stärkere globale Partnerin in der Zusammenarbeit für internationalen Frieden und Sicherheit.

Mehr als die üblicherweise aus Brüssel kommenden Papiere legt der strategische Kompass konkrete Handlungsziele fest – mit klaren Fristen um den Fortschritt zu messen. Das Dokument, das jetzt vom Rat angenommen wird, ist ein Dokument der Mitgliedstaaten. Während des gesamten Prozesses hatten die Mitgliedstaaten das Sagen. Mit der Unterzeichnung verpflichten sie sich, das Programm umzusetzen und es wird ein solides follow-up-Verfahren geben um diese Umsetzung abzusichern. Das sind die zentralen Unterschiede zur EU-Sicherheitsstrategie von 2003 und der Global Strategy von 2016. 

Eine starke EU bedeutet auch eine starke transatlantische Partnerschaft 

An diesem Punkt des Gesprächs tendieren Menschen dazu zu sagen “Das klingt ja alles ganz nett, aber was ist mit der NATO?” Lassen Sie mich betonen, dass die NATO im Zentrum der europäischen Territorialverteidigung bleibt. Niemand stellt das in Frage. Doch das sollte die  europäischen Länder nicht davon abhalten, ihre Kapazitäten zu entwickeln und Operationen in unserer Nachbarschaft und darüber hinaus durchzuführen. Als EU sollten wir sollten in der Lage sein, in Szenarien einzugreifen, wie das, das wir letztes Jahr in Afghanistan gesehen haben (die Sicherung eines Flughafens für Notfallevakuation), oder schnell zu intervenieren wenn in einer Krise das Leben von Zivilisten bedroht ist.

Ich bin überzeugt, dass eine größere strategische Verantwortung der EU der beste Weg ist, um die transatlantische Solidarität zu stärken. Es geht nicht um entweder EU oder NATO, sondern um EU und NATO. Und Vorbehalte “wegen der NATO”, dagegen diese Agenda voranzutreiben, kommen aus der EU, nicht aus den USA. Ich kann aus dem gemeinsamen Statement zitieren, das Minister Blinken und ich letzten Dezember veröffentlicht haben, dass die USA “eine stärkere und handlungsfähigere europäische Verteidigung” wollen, “die zur globalen und zur transatlantischen Sicherheit beiträgt”. Im Grunde sagen die USA ‘Redet nicht, handelt. Fangt an und helft uns, die Sicherheitslast zu tragen.’

Es geht nicht um entweder EU oder NATO, sondern um EU und NATO.

Josep Borrell

Wenn nicht jetzt, wann dann ?

Ich verstehe, dass jene, die wie ich einen Schritt in Richtung Sicherheit und Verteidigung machen wollen, erklären sollten, warum ‘es dieses Mal anders sein wird’. Wir sollten anerkennen, dass es in der Geschichte der europäischen Verteidigung diverse Pläne und Initiativen gab, voll von Akronymen, vom Pleven Plan und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, vom Beginn der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nach Maastricht über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und die “Stunde Europas”, hin zu Saint Malo, dem Beginn der ESDP, dann CSDP, dem Helsinki Headline Goal, PESCO, dem Europäischen Verteidigungsfonds und der Europäischen Friedensfazilität, etc….

Fakt bleibt: Sicherheit und Verteidigung ist vermutlich der Bereich der EU-Integration, in dem die größte Lücke zwischen Erwartungen und Ergebnissen klafft. Zwischen dem, was wir sein könnten, was die Bürger fordern – und dem, was wir tatsächlich erreichen. 

Also ist die Zeit reif für einen neuen Versuch. Und der Grund aus dem ich glaube, dass der strategische Kompass mehr Wirkung haben könnte als vorangehende Pläne liegt in der Geschwindigkeit mit der sich globale Trends und geopolitische Kontexte verändern und verschlimmern. Dies macht den Handlungsbedarf dringlich und zwingend notwendig. Das gilt für den Krieg in der Ukraine und die weitreichenden Implikationen, die ein revisionistisches Russland für die europäische Sicherheit hat. 

Doch es geht um mehr als das: alle Bedrohungen, die vor uns liegen, intensivieren sich und die Handlungskapazität individueller Mitgliedstaaten ist ungenügend und nimmt ab. Die Lücke wächst und das darf so nicht weitergehen. 

Meine Aufgabe war es, einen Ausweg zu skizzieren. Aber ich weiß nur zu gut, dass Ergebnisse nicht von Strategiepapieren abhängen, sondern von Handlungen. Und diese wiederum können nur von den Mitgliedstaaten kommen: sie verfügen über die nötigen Befugnisse und Güter.

Die positive Nachricht ist, dass wir mit jedem Tag mehr Mitgliedstaaten sehen, die bereit sind mehr in Sicherheit und Verteidigung zu investieren. Wir müssen sicherstellen, dass diese willkommenen Zusatzinvestitionen in kooperativer Weise geleistet werden und nicht in fragmentierter, nationaler Form. Wir müssen die aktuelle Dynamik nutzen, um sicherzustellen, dass wir uns – endlich – mit dem Mindset, den Mitteln und den Mechanismen ausstatten um unsere Union, unsere Bürger und unsere Partner zu verteidigen.

Politisch sehe ich die Wahl, vor der wir stehen, ähnlich zur Einführung des Euro oder des europäischen Konjunkturprogramms. Damals wurden die Kosten für “kein Europa” so hoch, dass man begann rote Linien zu überdenken und in wirklich europäische Lösungen zu investieren. Wir haben sozusagen den Sprung gemeinsam gewagt und in beiden Fällen sind die Ergebnisse eindeutig und positiv. Lassen Sie uns bei der europäischen Sicherheit und Verteidigung einen ähnlichen Sprung nach vorn machen, so wie unsere Bürger es erwarten. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Rückkehr zur Sprache der Macht

Im Guten wie im Schlechten vermute ich, dass mein Mandat als EU-Außenbeauftragter mit einem Satz verbunden sein wird, den ich in meiner Anhörung vor dem Europäischen Parlament im Oktober 2019 verwendet habe, nämlich: “Wir müssen lernen, die Sprache der Macht zu sprechen”.

Ich habe argumentiert, dass der Ursprung der europäischen Integration in der Zurückweisung der Machtpolitik seitens der beteiligten Staaten zu suchen ist. Das europäische Projekt war erfolgreich, indem es politische Probleme in technokratische überführte und Machtkalkül durch Rechtsprozeduren ersetzte. In der Geschichte der internationalen Beziehungen und unseres kriegszerissenen Kontinents war das eine kopernikanische Wende. Es war auch insofern spektakulär erfolgreich, dass es den Frieden und die Zusammenarbeit zwischen ehemals verfeindeten Parteien stärkte und Institutionen, mentale Landkarten und ein Vokabular schuf, die einzigartig waren.

Doch dieses historische Kapitel endete, als die EU mit diversen Krisen und Schocks rang: die Finanz- und Eurokrise, die Migrationskrise und der Brexit. Alle initiierten intensive politische Debatten über die Natur der EU und die Quellen von Solidarität und Legitimität. Diese konnten nicht durch die übliche EU-Taktik der Depolitisierung mit technokratischen und markt-basierten Ansätzen gelöst werden.  

Seit vielen Jahren schon leben wir in einer neuen Phase der europäischen Geschichte, in der es nicht so sehr um Räume geht (ein Brüsseler Lieblingsthema: offene Grenzen und freie Bewegung) sondern um Orte (wo Menschen herkommen und hingehören, ihre Identität). Wir scheinen weniger fokussiert auf Trends (Globalisierung, technischer Fortschritt) als auf historische Ereignisse (und wie wir auf diese reagieren): darunter die Pandemie und Russlands Angriff auf die Ukraine 3.

Hinzu kommt ein wichtiger Katalysator von außen. Der Erfolg der EU Integration und die gewählte Methode der Depolitisierung hatten ihren Preis: ein Widerstreben und eine Unfähigkeit, sich damit abzufinden, dass außerhalb unseres post-modernen Gartens “der Dschungel zurückwächst”4. Vor dreißig Jahren gab es viele Diskussionen darüber, dass die Erde eine Scheibe sei, die Geschichte beendet und das Modell Europa das 21.Jahrhundert beherrschen werde. Heute handeln die Diskussionen von der Ausnutzung von Interdependenz als Waffe und davon, dass ein vermeintlich naives Europa schlecht in das Zeitalter der Machtpolitik passt5.

Bei alldem bin ich von zwei Dingen überzeugt: 

Erstens müssen wir realistisch sein und anerkennen, dass die aktuelle Phase in der Geschichte und Weltpolitik es erforderlich macht, in Begriffen der Macht zu denken und zu handeln (daher der Ausdruck ‘die Sprache der Macht’). Der Krieg gegen die Ukraine ist die jüngste und dramatischste Illustration dessen. 

Zweitens liegt der beste Weg, um selbst Einfluss auszuüben, darin die Ereignisse zu gestalten statt von ihnen getrieben zu sein, und zwar auf Ebene der EU: durch gemeinsamen Investitionen in unsere kollektive Handlungskapazität: Alles weitere ist Verzierung und Detailarbeit. 

Eine Folge dessen ist, dass wir uns selbst mit einem Mindset und den Mitteln zum Umgang mit der Ära der Machtpolitik ausstatten müssen,  und zwar im großen Maßstab. Das wird nicht über Nacht geschehen – eingedenk dessen, wer wir sind und woher wir kommen. Dennoch glaube ich, dass wir dabei sind, die Grundsteine zu setzen und die Ukrainekrise hat diese Entwicklung beschleunigt. 

Bereits 2021 haben wir gezeigt, dass wir bereit waren, eine starke Position einzunehmen, um den offenen Machtdemonstrationen an unseren östlichen Grenzen etwas entgegenzusetzen. Zusätzlich zu unserer Unterstützung für die Ukraine, kann darauf verwiesen werden, was wir mit Blick auf Belarus unternommen haben, wo wir uns fest gegen die Instrumentalisierung von Migration gestellt haben, oder mit Blick auf Moldau, wo wir unsere Unterstützung ausgeweitet haben. 

Zudem haben wir unsere Haltung gegenüber China gestärkt und dargelegt, wie die EU ihr Engagement im und mit dem indo-pazifischen Raum verbessern kann. Wir blicken weniger naiv auf China und haben unsere Hausaufgaben gemacht, wenn wir der Herausforderung einer asymmetrischen Offenheit mit unseren Politik zum Investment Screening, 5G, Auftragsvergabe und dem Anti-Coercion-Instrument begegnen, so wie Sabine Weyland es beschrieben hat6.

Darüber hinaus engagieren wir uns mit unserer indopazifischen Strategie in einem Prozess der politischen Diversifizierung durch Investitionen in unsere Bindungen an ein demokratisches Asien. Wesentlich ist dabei unsere Arbeit am Global Gateway um unser Angebot zu konkretisieren und zu zeigen, wie es sich von den Angeboten anderer unterscheidet. Tatsächlich begrüßen viele Partner in Afrika und Asien den europäischen Ansatz an Konnektivität mit seiner Emphase auf abgestimmte Regeln, Nachhaltigkeit und lokale Eigenverantwortung. Doch es handelt sich um eine hart umkämpftes Feld, auf dem derzeit um Standards gerungen wird. Deswegen müssen wir konkret werden und unsere Haltung nicht auf allgemeine Aussagen über Prinzipien oder Intentionen beschränken. Aus diesem Grund planen wir, bis zu 300 Milliarden Euro im Rahmen des Global Gateway zu mobilisieren, von denen 150 Milliarden spezifisch für Afrika vorgesehen sind, plus mehrere richtungsweisende Projekte, um die Kooperation zu konkret und greifbar wie möglich zu machen7.

Ich könnte weitererzählen, doch der zentrale Punkt ist, dass die Idee einer geopolitisch bewussten EU bereits vor dem Ukraine-Krieg Form annahm – Stück für Stück. Die vor uns liegende Aufgabe ist nun Europas geopolitisches Erwachen dauerhafter zu machen und folgenreicher. Das erfordert nicht nur, das Erlernen sondern auch das Sprechen der Sprache der Macht. 

Halbzeit des Mandats: Was können wir anders und besser machen? 

Die derzeitige EU-Kommission kam im Dezember 2019 ins Amt. Über zwei Jahre später und ausgehend von einer eingehenden Analyse, wie wir EU Außenpolitik betreiben, ist meine Hauptsorge, dass wir den Frieden nicht wahren. Wie mein Freund, der erste EU-Außenbeauftragte, Javier Solana sagt, ist Zeit in der Politik wie in der Physik relativ: solange die Geschwindigkeit mit der man sich selbst verändert geringer ist, als die Geschwindigkeit in der sich das drumherum verändert, geht man rückwärts. Und das können wir uns nicht leisten. Unsere Antwort auf die Ukrainekrise zeigt, was getan werden kann, wenn der Druck hoch ist. Dennoch ist es zu früh um zu schlussfolgern, dass dies des generelle Weg zum Betreiben der EU-Außenpolitik ist.  

Lassen Sie mich also einige Ideen teilen, was die vier wesentlichen Zutaten für Erfolg und größeren EU-Impact in einer turbulenten Welt sind: 

1 – Denken und Handeln in Begriffen der Macht

Mit gutem Grund bevorzugen die Europäer nach wie vor Dialog gegenüber Konfrontation; Diplomatie gegenüber Gewalt; Multilateralismus statt Unilateralismus. Doch wenn Dialog, Diplomatie und Multilateralismus gelingen sollen, müssen dahinter Macht und Ressourcen stehen. Wann immer das der Fall war – in der Ukraine, Belarus oder in der Klimadiplomatie – hatten wir einen Einfluss. Wann immer wir uns entschieden haben, prinzipielle Positionen zu formulieren ohne die Mittel zu spezifizieren, die sie wirksam machen, waren die Ergebnisse weniger eindrucksvoll. 

Mein Eindruck ist, dass die Ideen rund um die Sprache der Macht oder die Ausnutzung von Interdependenz als Waffe inzwischen weit akzeptiert sind. Trotzdem bleiben die Umsetzung sowie die benötigten Ressourcen und Verpflichtungen eine Herausforderung. 

2 – Initiativen ergreifen und bereit sein für Experimente

Generell bewegen wir uns zu oft im reaktiven Modus, reagieren auf die Pläne und Entscheidungen anderer. Ich glaube, wir müssen bürokratische Routinen vermeiden (“Was haben wir letztes Mal gemacht?”) und mehr Eigeninitiative zurückgewinnen.

Zusätzlich müssen wir bereit sein, mehr zu experimentieren. Es ist oft die sicherste Option, bei dem zu bleiben, was wir wissen und was wir immer getan haben. Doch das ist nicht immer der beste Weg um Ergebnisse zu erzielen. 

3 – Diverse Koalitionen bauen und schneller Entscheidungen treffen

Wir müssen zielorientiert sein und uns Gedanken machen, wie wir Partner rund um unsere Prioritäten mobilisieren können, Thema für Thema. Wir sollten anerkennen, dass wir neben Koalitionen gleichgesinnter Partner auch mit einigen Ländern nur in Bezug auf manche Themen zusammenarbeiten, während sie in anderen Fragen gegen uns stehen. Und wo die zentrale Regierung nicht hilfsbereit ist, sollten wir stärker mit lokalen Kräften und zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten.

In der EU sind wir sehr mit uns selbst beschäftigt und es dauert lange, gemeinsame Positionen zu entwickeln. Wenn Mitgliedstaaten uneins sind, führt die Einstimmigkeitsregel in der Außenpolitik zu Lähmung und Verzögerung. Deswegen bin ich dafür, in ausgewählten Bereichen konstruktive Enthaltung und andere im Vertrag vorgesehene Optionen anzuwenden, wie das Prinzip der qualifizierten Mehrheit, um schnellere Entscheidungsfindung zu ermöglichen8

Es besteht das Risiko, dass wir das Streben nach innerer Einheit über die Maximierung unserer äußeren Wirksamkeit priorisieren. Wenn wir endlich eine gemeinsame Position erreicht haben, oft indem wir dem Wein viel Wasser beimengen, hat sich die restliche Welt bereits weiterbewegt. 

4 – Narrative gestalten

Nach Jahrzehnten in der Politik bin ich überzeugt, dass das vermutlich stärkste Mittel zum Erfolg die Gestaltung von Narrativen ist. Das ist die eigentliche Währung der globalen Macht9.  

Aus diesem Grund habe ich zu Beginn der Pandemie von einem “Kampf der Narrative”10 gesprochen und betont, wie wichtig es ist, in eine gemeinsame strategische Kultur zu investieren. Dies bedarf einer europäischen Debatte, einem Raum, in dem diskutiert wird, was wir in der EU Außenpolitik leisten können oder  nicht leisten können und warum. Dementsprechend trages ich regelmäßig zu dieser Revue und den Seminaren der Groupe d’études géopolitiques bei, die meines Erachtens ein konkretes Beispiel für eine strategische, politische und intellektuelle Debatte auf kontinentalem Level liefern11.  

Die Bürger der EU kümmern sich nicht sonderlich darum, wer in Brüssel was macht, noch um abstrakte Diskussionen. Die Menge an Statements, die wir veröffentlichen oder welche Sanktionen wir ergreifen interessiert sie nicht. Sie beurteilen uns nach unseren Outputs, nicht nach unseren Inputs. In anderen Worten nach Ergebnissen: Sind sie sicherer oder wohlhabender durch das Handeln der EU? Ist die EU mehr oder weniger einflussreich als vor einem Jahr, auch was die Verteidigung unserer Werte anbelangt? Vertrauen uns andere mehr oder weniger? Haben wir in der Unterstützung unserer Partner mehr oder weniger erreicht? Das sind die Indikatoren, die zählen. 

Der Krieg gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, dass wir in einer machtpolitisch strukturierten Welt mehr Kapazitäten zu unserer Verteidigung benötigen. Ja, dazu gehören auch militärische Mittel und wir müssen diese weiter entwickeln. Doch der Kern des EU-Handelns in dieser Krise war die Verwendung aller Politiken und Hebel – die überwiegend ökonomisch und regulatorisch blieben – als Machtinstrumente. 

Wir sollten auf diesem Ansatz aufbauen, in der Ukraine, aber auch anderswo. Die Kernaufgabe eines “geopolitischen Europas” ist einfach: unsere neue Zielstrebigkeit nutzen und zur neuen Norm der EU Außenpolitik machen.Unsere Bürger beschützen, unsere partner unterstützen und unsere globale Sicherheitsverantwortung ins Auge blicken.  

Fußnoten
  1. Le Grand Continent, Politiques de l’interrègne, Gallimard, 2022
  2. Mehr zur Ratio und den zentralen Elementen in meinem Vorwort zum strategischen Kompass:  https://eeas.europa.eu/sites/default/files/en_updated_foreword_-_a_strategic_compass_to_make_europe_a_security_provider_v12_final.pdf
  3. Vgl. Luuk van Middelaar in https://legrandcontinent.eu/fr/2021/04/15/le-reveil-geopolitique-de-leurope/
  4. Vgl. Robert Kagan’s Buch: https://www.brookings.edu/books/the-jungle-grows-back-america-and-our-imperiled-world/
  5. Vgl. Mark Leonard, https://legrandcontinent.eu/fr/2022/02/18/lere-de-la-paix/
  6.  Vgl.  https://legrandcontinent.eu/fr/2022/01/31/doctrine-de-la-double-integration-sabine-weyand/
  7. Siehe dazu https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_21_6433.
  8. Siehe dazu https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage/86276/when-member-states-are-divided-how-do-we-ensure-europe-able-act_en
  9. Lorenzo Castellani, “Le nouveau visage du pouvoir” in Le Grand Continent, Politiques de l’interrègne, Gallimard, 2022.
  10. Vgl. https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage/76437/node/76437_de
  11. Vgl.  https://geopolitique.eu/en/2021/05/05/european-foreign-policy-in-times-of-covid-19/