Die COVID-19-Pandemie hat die europäischen Regionen stark getroffen. Während viele Menschen in den Grenzgebieten die Grenzschließungen als einen historischen Schock erlebten, hatten viele Regionen unter dem exzessiven Zentralismus ihrer nationalen Regierungen zu leiden. Die Groupe d’études géopolitiques veröffentlicht heute im Rahmen ihres COVID-19-Observatoriums einen neuen Bericht zu diesem Thema. Auf der Grundlage von zwanzig Interviews mit Politikern und Experten aus einem Dutzend europäischen Ländern schlägt unser dreisprachiger Bericht mit einem Vorwort des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn ein neuartiges „subsidiäres Krisenmanagement” vor. Ziel dieses vom deutschen, schweizerischen und belgischen Krisenmanagements inspirierten Ansatzes ist es, eine bürgernahe und flexible Krisenbewältigung in Europa zu fördern, die regionalen Unterschieden sowie der besonderen Stellung der Grenzgebiete Rechnung trägt.

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Subsidiäres Krisenmanagement in der Corona-Pandemie: Bundesrepublikanisches Erfolgsmodell und grenzübergreifende Perspektiven

Während sich in den meisten europäischen Ländern zentralistische Ansätze durchsetzten, ging Deutschland in der Corona-Pandemie einen subsidiären Weg. Die Reaktion im Gesundheits- und Verwaltungsbereich erfolgte fast ausschließlich auf Landesebene, wobei die Ministerpräsidentenkonferenz für die politische Koordinierung zwischen der föderalen und der regionalen Exekutive sorgte. Diese in Europa einzigartige Organisation, die einen Vergleich der Ansätze und Maßnahmen zulässt, hat eine informierte, verhältnismäßigere und transparentere Entscheidungsfindung ermöglicht.

Anderswo in Europa und insbesondere in Grenzregionen hatte das Krisenmanagement unter mangelnder Koordinierung und exzessivem Zentralismus seitens der Nationalregierungen zu leiden. Denn die Epidemie war hauptsächlich regional und lokal strukturiert. So führte der Einsatz vertikaler, flächendeckender Ansätze oft zu einem falschen Dilemma zwischen Ineffektivität und Unverhältnismäßigkeit, das zu erhöhten Spannungen zwischen den nationalen Hauptstädten und den Regionen führte.

In grenzüberschreitenden Lebensgebieten haben die einseitigen Schließungen der EU-Binnengrenzen das tägliche Leben der Menschen erheblich beeinträchtigt und ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit hervorgerufen. Nach dreißig bis sechzig Jahren ununterbrochener Bewegungsfreiheit war die plötzliche Grenzschließung ein Schock. Konsequenz der mangelhaften Absprachen unter den Staaten war zunächst eine von Intransparenz und offenen Fragen geprägte Situation. Die Rückkehr nationaler Ressentiments, das Gefühl einer realitätsfremden Politik und eine scheinbar willkürliche Aufteilung der Gebiete infolge nationaler Alleingänge untergruben das Vertrauen in das europäische Projekt.

Jedoch ist diese Situation nicht aussichtslos. Auf dem deutschen, aber auch belgischen und schweizerischen Modell aufbauend schlagen wir einen subsidiären Ansatz zur Krisenbewältigung vor, in den die lokale, regionale und euroregionale Ebene voll einbezogen wird. Dieser Ansatz gewährleistet eine größere Proportionalität bei den getroffenen Entscheidungen und stärkt gleichzeitig die Kontrolle der Bürger über die Politik ihrer Lebensgebiete.

Außerdem offenbart die Corona-Pandemie die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Bisher wurden Euroregionen hauptsächlich im Rahmen langfristiger Projekte herangezogen; es wäre höchste Zeit, sie auch an der operationellen Koordinierung und Planung zu beteiligen. In direktem Kontakt mit der Realität grenzüberschreitender Lebensgebiete und dem Alltag der Bevölkerung können die Euroregionen einen entscheidenden Beitrag zur Krisenbewältigung leisten. Durch eine breite Koalition von regionalen und lokalen Akteuren und gezielte Initiativen könnte eine solche Entwicklung von unten auf gefördert werden.

Diese Arbeit basiert auf etwa zwanzig Gesprächen, die wir mit lokalen und regionalen EntscheidungsträgerInnen und ExpertInnen aus einem Dutzend europäischer Länder geführt haben. Um die interregionale Zusammenarbeit in Europa wieder auf eine solidere Grundlage zu stellen und die institutionellen Lehren aus der Pandemie zu ziehen, schlagen wir vier konkrete Maßnahmen vor:

  1. Die Verabschiedung einer Charta durch lokale, regionale und nationale Akteure, in der die Notwendigkeit eines subsidiären Ansatzes zur Krisenbewältigung betont wird, mit dem Ziel, eine kontinentale Bewegung in Gang zu setzen.
  1. Eine systematische Studie zur Erfassung und Abgrenzung der bestehenden Lebensgebiete, um den  geeignetsten Maßstab für Entscheidungsfindung, Analyse und Krisenmanagement zu bestimmen.
  1. Die Verabschiedung einer Richtlinie, die die Einrichtung Europäischer Verbunde für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) in allen Grenzgebieten zur Pflicht macht und ihre Konsultation vor jeglichen Grenzschließungen vorsieht.
  2. Die Formalisierung der aktiven koordinierenden Rolle der EU durch die Schaffung einer neuen Formation des Rates der Europäischen Union, die für die Koordinierung der interregionalen Politik und des Krisenmanagements zuständig ist.

Oben auf dieser Seite finden Sie den kompletten Bericht in drei Sprachen (Deutsch, Französisch, Englisch) sowie seine Zusammenfassung in sieben Sprachen.