Dieser Artikel ist auch in englischer Fassung verfügbar auf der Website der Groupe d’études géopolitiques.

Ursprünglich hatte ich vor, in dieser Rede Europas Umgang mit der Pandemie zu analysieren. Doch die Ereignisse überschlagen sich und es ist scheint notwendig, Europa, die Pandemie und die Ukraine-Invasion zu behandeln und zu versuchen, sie in eine umfassendere Perspektive zu stellen 1.

Europa hat enorme und beeindruckende Solidarität gezeigt, sowohl im Umgang auf die Pandemie als auch in der Ukraine-Krise. Geschwindigkeit, Flexibilität und Engagement im Umgang mit beiden Krisen waren bemerkenswert. Wir sehen also viele Stärken und doch kann ich es als Akademiker nicht lassen, einige Dinge aufzuzeigen, die man darüber hinaus hätte tun sollen.  

Die Lehren der Pandemie

Auf die Bemerkung, man hätte bereits in der Eurokrise Eurobonds ausgegeben sollen lässt sich antworten: Das ist nun in Reaktion auf die Pandemie geschehen und es ist essentiell für die Stabilität, die langfristige Leistungsfähigkeit Europas und der Eurozone. In mancherlei Hinsicht kann das Vorgehen dabei kritisiert werden: Das Geld hätte stärker in Subventionen umgelenkt werden müssen und das Gesamtvolumen war zu gering. Einer der Gründe für die raschere Erholung der US-Wirtschaft liegt darin, dass es mehr Konjunkturmaßnahmen gab. Vor allem aber hätten die Eurobonds als Gelegenheit dienen können, ein europaweites Steuersystem zur Refinanzierung der Eurobonds einzurichten. 

In vielen Bereichen gäbe es einen Bedarf für ein europäisches Steuersystem. Frankreich führt eine Debatte über eine nationale Digitalsteuer, die eigentlich auf europäischer Ebene erhoben werden müsste. Es ist besorgniserregend, dass das neue Steuerabkommen – irrationalerweise – ein Verbot solcher Steuern enthält. Auch eine gemeinsame Vermögenssteuer sollte es geben. In Europa herrscht nach wie vor ein hohes Maß an Ungleichheit. Ein Problem ist dabei, dass Menschen von einem Ort in Europa an einen anderen ziehen können um Steuern zu umgehen. In Frankreich gibt es mehrere bekannte Beispiele. Die Reaktion auf die Pandemie wäre eine Gelegenheit für eine gemeinsame Einkommensteuer gewesen.

In vielen Bereichen gäbe es einen Bedarf für ein europäisches Steuersystem. Frankreich führt eine Debatte über eine nationale Digitalsteuer, die eigentlich auf europäischer Ebene erhoben werden müsste.

Joseph E.Stieglitz

Bei der Gründung der EU sorgte man sich über grenzüberschreitende Externalitäten. Was würde geschehen, wenn ein Land mit seiner Finanzpolitik Defizite verzeichnet? Was wären die makroökonomischen Implikationen für andere Länder? Wie sich herausstellte, war das nicht die entscheidende Externalität. Stattdessen erwies sich der Steuerwettbewerb als wichtiges Problem. Tatsache ist, dass sich einige Länder – zum Beispiel Irland oder Luxemburg – komfortabel eingerichtet haben und im Grunde ihre Nachbarn berauben, indem sie zu Niedrigsteuergebieten wurden. Irgendwann wird man sich mit diesem Problem befassen müssen.

Ein zweiter Aspekt der europäischen Antwort auf die Pandemie, der sehr beeindruckend war, war Next Gen EU. Präsident Biden  hatte mit Build Back Better das richtige Konzept, konnte es allerdings nicht durchsetzen. Europa ist es besser gelungen als den USA, das ausgegebene Geld doppelt, dreifach oder vierfach zu nutzen. Die grundlegende Annahme der Wirtschaftswissenschaften ist: Wenn das Geld knapp ist,  sind auch die Ressourcen knapp. Dieses Geld musste nicht nur die Wirtschaft wieder aufbauen, sondern auch auf soziale Ungleichheit, die Klimakrise und alle anderen Probleme, vor denen unsere Gesellschaften stehen, wirken. Das war die zentrale Idee von beiden Programmen, Next Generation EU und Build Back Better. Es ist klar, dass Europa und die USA nach der Pandemie nicht zu dem Zustand zurückkehren wollen, in dem die Welt im September 2019 war. Das ausgegebene Geld könnte helfen unsere Gesellschaften in eine andere Richtung zu bewegen. 

Es ist klar, dass Europa und die USA nach der Pandemie nicht zu dem Zustand zurückkehren wollen, in dem die Welt im September 2019 war. Das ausgegebene Geld könnte helfen unsere Gesellschaften in eine andere Richtung zu bewegen. 

Joseph E. Stieglitz

Die Maßnahmen gegen Kinderarmut können als Beispiel dafür dienen, wie erfolgreich die USA binnen eines Jahres mit dem American Rescue Plan waren, jedoch scheitern diesen Erfolg dauerhaft zu halten. Es scheint kriminell, dass in einem reichen Land wie den USA 20% der Kinder in Armut aufwachsen. Unter Präsident Biden konnte dieser Anteil in nur einem Jahr halbiert werden, von 20% auf 10%. Das zeigt, dass dies schon früher hätte geschehen können. Wir haben die Gelegenheit der Krise genutzt um ein lange bestehendes Problem im Land anzugehen. Unglücklicherweise ist Politik in den USA ein unschönes Geschäft und eine Folge ist, dass die Republikaner jetzt mehr Kinder zurück in Armut bringen wollen – es bleibt damit ein temporärer Sieg. 

Der dritte erwähnenswerte Punkt ist die Qualität der Antwort und, besonders in den USA, die  Erkenntnis, dass es ein Problem mit der Gesundheitsversorgung gibt. Hier unterscheiden sich Europa und die USA. Die USA geben viel mehr für Gesundheitsversorgung aus, ca. 20% des BIP, Frankreich gibt etwa 11% dafür aus. Und dennoch sind die Gesundheitsstatistiken in den USA viel schlechter: die Lebenserwartung ist geringer; die Morbidität ist höher, alle Gesundheitsindikatoren sind schlechter. Das liegt teilweise daran, dass es kein gutes öffentliches Gesundheitssystem gibt. Die USA erkennen etwas nicht an, was in der UN Charta steht: dass das Recht auf Gesundheitsversorgung ein Menschenrecht ist. Ich kann dazu eine kleine Anekdote erzählen, vom Besuch eines französischen Präsidenten, an der Columbia University während der Debatte über Obamacare. Ein Student fragte: “Was halten Sie von Obamacare?” Seine Antwort war sehr diplomatisch: “Wissen Sie, ich mische mich nicht in die innenpolitischen Angelegenheiten der USA ein. Ich möchte keine Meinung dazu abgeben. Aber ich verstehe einfach nicht, wie Sie ein Gesundheitssystem haben können, welches das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht anerkennt.” Er erkannte, dass das amerikanische Gesundheitssystem insofern etwas sehr Merkwürdiges an sich hat, als dass wir das Recht auf Gesundheitsversorgung nicht anerkennen.

Der Grund aus dem so viele Amerikaner gestorben sind – eine größere Zahl als in allen anderen Ländern – ist die Schwäche des Gesundheitssystems. Covid-19 war kein egalitäres Virus, es traf vorwiegend Personen mit Vorerkrankungen. Wegen des schlechten Gesundheitssystems gab es besonders viele davon. Die andere Sache, die wir aus der Pandemie gelernt haben, war die Erkenntnis, das Public Health ein öffentliches Gut ist; wir alle profitieren von einer gesunden Gesellschaft.

Eine entscheidende und polarisierende Frage in den USA – und in geringerem Ausmaß in Europa – ist, dass viele Amerikaner die Bitte, sich impfen zu lassen oder eine Maske zu tragen, als Einschränkungen in ihrer Freiheit wahrnehmen, ebenso wie die Bitte, keine Waffe zu tragen als Einschränkung der Freiheit empfunden wird. Es gilt zu verstehen, dass die Freiheit des einen die “Unfreiheit” des anderen ist: Wenn Sie eine Waffe haben und jemanden töten, nehmen Sie dem sein Recht auf Leben, ein grundlegenderes Recht als das Recht eine Waffe zu tragen. Wenn Sie keine Maske tragen, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anders die Krankheit bekommt und stirbt. Das Recht keine Maske zu tragen beschneidet das Recht anderer, und zwar ein fundamentaleres Recht: das Recht auf Leben. 

Es gilt zu verstehen, dass die Freiheit des einen die “Unfreiheit” des anderen ist […]. Das Recht keine Maske zu tragen beschneidet das Recht anderer, und zwar ein fundamentaleres Recht: das Recht auf Leben.

Joseph E. Stieglitz

Dahingehend hat die Pandemie uns eine wichtige Lektion erteilt, wie wir als Gesellschaft zusammenarbeiten müssen. 

Ein vierter, und besonders starker Aspekt von Europas Antwort auf die Pandemie war, das es die vorderste Front der globalen wirtschaftlichen Reaktion bildete. Das Ausmaß der Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft in den USA und in Europa wurde bereits erwähnt, doch Entwicklungs- und Schwellenländer hatten schlicht nicht die Ressourcen um dasselbe zu tun. Die USA wandten 25% ihres BIP auf, manche Länder mehr, Europa etwas weniger. Das waren beispiellose Summen, die beeindruckende Antworten auf die Krise liefern konnten. Doch Entwicklungs- und Schwellenländer konnten nur einen Bruchteil davon aufbringen. 

Europa hat in erster Reihe mit dem IWF zusammengearbeitet um sicherzustellen, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. 650 Milliarden US-Dollar sollten in Form von Sonderziehungsrechten (SZRs) zugeteilt und an alle Länder der Welt ausgegeben werden, um die ökonomischen Ausfälle durch die Pandemie abzufedern. Es war enttäuschend, dass Präsident Trump in den USA ein Veto gegen diese Initiative einlegte, die die US-Steuerzahler praktisch nichts kostet. Europa hat sich weiter dafür eingesetzt und unter Präsident Biden, konnten die 650 Milliarden schließlich bereitgestellt werden. Bis heute wurde diese Geld ungenügend recycled.  SZR werden an alle Länder ausgegeben, egal ob sie reich oder arm sind. Dieses Geld muss von den Ländern, die das IWF-Geld nicht brauchen, in die Länder fließen, die es brauchen. Europa hat beim Recycling bessere Arbeit geleistet als viele andere. Die USA haben dem noch nicht zugestimmt, auf der IWF-Tagung nächsten Monat in Washington wird darüber diskutiert werden. Es ist ganz klar, dass es keine globale Erholung der Wirtschaft geben kann, solange es nicht überall einen wirtschaftlichen Aufschwung gibt. Derzeit stehen wir iin vielen Ländern kurz vor einer Schuldenkrise, insbesondere aufgrund gestiegener Ölkosten und hoher Zinssätze, die den globalen Aufschwung gefährden werden.

© Lu Hongjie / Costfoto/Sipa USA

Die Mängel unserer Reaktion

Während wir diese Errungenschaften feiern können, gibt es auch einige Enttäuschungen und es ist meine Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft sich weiterhin dafür einsetzen wird, dass diese Dinge noch umgesetzt werden. 

Die bedeutendste Enttäuschung war die misslungene Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte für den Covid-19-Impfstoff. Zu Beginn der Pandemie wurde schnell klar, dass – in den Worten der WHO – niemand in der Welt sicher ist, bevor nicht alle sicher sind. So lange die Krankheit irgendwo in der Welt präsent ist, besteht die Gefahr einer tödlicheren, infektiöseren oder impfstoff-resistenten Mutation. Es war töricht, nicht alles zu tun, um sicher zu stellen, dass die gesamte Weltbevölkerung geimpft wird. Wir sollten die erbrachte Leistung feiern: öffentliche Investitionen in Grundlagenforschung und Wissenschaft sowie die Partnerschaft zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichen Sektor haben es ermöglicht haben, in Rekordzeit einen Impfstoff zu entwickeln. Doch wir hätten nicht nur die Milliarden an Impfdosen produzieren sollen, die in den Industriestaaten benötigt wurden, sondern auch die weiteren Milliarden Dosen, die in Entwicklungs- und Schwellenländern fehlten. Das haben wir nicht getan und es sollte als großes organisationales und institutionelles Versagen erkannt werden.

So lange die Krankheit irgendwo in der Welt präsent ist, besteht die Gefahr einer tödlicheren, infektiöseren oder impfstoff-resistenten Mutation. Es war töricht, nicht alles zu tun, um sicher zu stellen, dass die gesamte Weltbevölkerung geimpft wird.  

Joseph E. Stieglitz

Die geistigen Eigentumsrechte sollen Anreize für die Forschung schaffen, doch inmitten einer Pandemie ist es unerlässlich, dass der Impfstoff auf der ganzen Welt verfügbar ist. Als die WTO gegründet wurde, gab es ein Abkommen über geistiges Eigentum, welches die Erteilung von Zwangslizenzen vorsah. Es geht also keineswegs um eine Abkehr von den Grundprinzipien geistiger Eigentumsrechte. In den USA gelang es der Zivilgesellschaft, Präsident Biden zu überzeugen, den Verzicht auf geistige Eigentumsrechte für den Impfstoff zu unterstützen, doch die Pharmaunternehmen wandten sich dagegen. Und vor allem Deutschland, gemeinsam mit einigen anderen europäischen Ländern, hat die Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte bisher verhindert. Es gab eine enorme Zahl von Todesfällen und eine noch viel höhere Anzahl an Erkrankungen, weil die Ausnahmeregelung nicht in Kraft gesetzt wurde, als sie im Oktober 2020 erstmals vorgeschlagen wurde. 

Der ukrainische Einschnitt

Es ist völlig unvorstellbar, dass wir im 21.Jahrhundert einen Landkrieg haben würden. Europas Antwort auf die Ukraine-Invasion war beeindruckend in ihrer Solidarität, selbst von illiberaleren Ländern wie Ungarn.  Länder, die eine Bewunderung für einen Diktator wir Putin ausgedrückt haben, haben die europäische Reaktion unterstützt. Diese Solidarität ist ein gutes Zeichen für Europas Zukunft.

Was kann ein Ökonom zur Debatte über komplexe politische und strategische Fragen beitragen kann. Nun, dabei sind mindestens drei Themen zu berücksichtigen.

Die erste Frage hat mich schon vor 25 Jahren als Mitglied des Council of Economic Advisors von Bill Clinton beschäftigt: Wirken Sanktionen? In der Geschicht gibt es diverse Beispiele für Sanktionen, an Orten wie Südafrika, Südrhodesien oder Myanmar. Die Antwort ist: manchmal. Oft bedarf es viel Zeit. In Südafrika dauerte es sehr lange. Doch aus diesen Erfahrungen können  einige Lehren gezogen werden, wie Sanktionen wirksam gemacht werden können. Um effektiv zu wirken, müssen Sanktionen universal und so stark wie möglich sein. Außerdem sollten sie asymmetrisch wirken, das heißt das sanktionierte Land sollte stärker betroffen sein als das Land, welches die Sanktionen erhoben hat. Im derzeitigen Fall scheint eine gute Chance auf Erfolg zu bestehen.

Wirken Sanktionen?
Die Antwort ist: manchmal. Oft bedarf es viel Zeit.

Joseph E. Stieglitz

Das Ausmaß der Reaktion seitens der USA, Europas und der gesamten westlichen Welt war extrem effektiv. Die Bandbreite der Sanktionen umfasst den Finanzsektor, jeden Bereich relevanten Handels sowie die mögliche Aberkennung der WTO-Provision als “most favored nation”. Hinzu kommt die besondere Position des Westens gegenüber Russland. Die meisten Leute realisieren überhaupt nicht, wie klein die russische Volkswirtschaft geworden ist. Manche betrachten die Situation als Aufeinandertreffen zweier beinahe ebenbürtiger Supermächte, doch größenmäßig ist die russische Wirtschaft sehr klein. Je nachdem, wie man misst, ist sie etwa so groß wie die der Niederlande oder Spaniens. Diese sind nicht winzig, aber sie sind nur ein Bruchteil der europäischen Wirtschaftsleistung, geschweige denn der gemeinsamen Wirtschaftsleistung von Europa und den USA. 

Zudem basiert die russische Wirtschaft auf natürlichen Ressourcen, 70% oder mehr der russischen Exporte sind natürliche Ressourcen. Die Wirtschaft ist nicht sonderlich diversifiziert und hochgradig abhängig von globalen Versorgungsketten. Es besteht eine bedeutsame Asymmetrie zwischen Europa, den USA und Russland. Wir haben andere Energiequellen, andere Nahrungsquellen, wir produzieren die wichtigsten Inputs für unseren Output, wir haben eine diversifizierte Industrie. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit starker asymmetrischer Effekte sehr hoch. Das gilt besonders für den russischen Finanzsektor, der abhängig vom Westen geworden ist. Beinahe jedes finanzielle System ist fragil. Wenn es plötzlich von seinen finanziellen Partnern abgeschnitten wird, kann es zu Erschütterungen kommen und das System kann Schaden nehmen.

[Seit Beginn der Invasion in die Ukraine haben wir mit unseren Karten, Analysen und kommentierten ÜBersetzungen mehr als 1,5 Millionen Leserinnen und Lesern geholfen, die geopolitischen Umbrüche unserer Zeit zu verstehen. Falls Sie unsere Arbeit sinnvoll und unterstützenswert finden, können sie hier ein Abonnement abschließen.]

Die Grenzen der Sanktionen

Allerdings gibt es einige limitierende Faktoren der Wirksamkeit von Sanktionen. Der erste und wichtigste ist China. Wie gesagt, funktionieren Sanktionen nur, wenn sie universal sind. Wir haben globale Versorgungsketten geschaffen und China ist ein Schlüsselelement dieser Versorgungsketten. Falls China entscheidet, die von den USA und Europa erhobenen Sanktionen zu umgehen, wäre der Effekt dieser Sanktionen sehr begrenzt. Deswegen haben die USA deutlich gemacht – und auch Europa sollte es auf diplomatische Weise deutlich machen – dass eine Umgehung der Sanktionen für Chine schwere Konsequenzen hätte. Es liegt nicht in Chinas Interesse auf der falschen Seite zu stehen. Russland ist eine kleine Volkswirtschaft, deswegen sind die Vorteile Russland als einzigen Handelspartner zu haben gering, so dass China dies sicherlich sicherlich nicht will.

Die zweite wichtige Einschränkung der Wirksamkeit von Sanktionen betrifft Russlands primäre Exportgüter: natürliche Ressourcen. Ich denke Deutschland, Europa im allgemeinen, hat einen großen Fehler begangen als es sich abhängig von russischem Gas machte. 2006 habe ich in meinem Buch Die Chancen der Globalisierung geschrieben: Russland ist kein stabiler Handelspartner. Es war es damals nicht und ist auch heute keine stabile politische Einheit, von der man abhängig sein will. Gas unterscheidet sich insofern von Öl, dass man nicht in kurzer Zeit eine alternative Gasversorgung einrichten kann. Ökonomen sprechen von einem Marktversagen, das darin besteht, dass das Risiko der Abhängigkeit von Russland nicht im Marktpreis eingegangen ist. Als Deutschland sich mit russischem Gas für die günstigste Energiequelle entschied, bildete der Preis weder die CO2-Kosten noch das Risiko ab. Diese Kosten erlebt Europa heute.

Zumindest von unserer Seite des Atlantik aus betrachtet gab es eine Art Korruption, dadurch dass der Kanzler, der entscheidend fur diese Abhängigkeit war, Mitglied im Aufsichtsrat von Gazprom wurde. Das sieht aus demokratischer Perspektive nicht so gut aus. Es hätte eine gewisse Sensibilität dafür geben müssen, wie das aussehen würde.

Es liegt nicht in Chinas Interesse auf der falschen Seite zu stehen.

Joseph E. stieglitz

Das dritte Problem wirksamer Sanktionen hängt damit zusammen, dass Sanktionen auf das sanktionierte Land stärker wirken müssen als auf das Land, welches die Sanktionen erhebt. Aktuell stehen die USA und Europa vor Inflationskosten. Zu einer sehr ungünstigen Zeit wegen der Versorgungskettenunterbrechungen durch die Pandemie. Und die Frage ist: Wie ordnen wir diese Inflation ein? In der Presse wurde oft geschrieben, dies sei die stärkste Inflation seit vierzig Jahren, als ob es das Ende der Welt sei. Lassen Sie mich sehr deutlich machen, dass die Inflation, die wie vor 40 Jahren hatten, deutlich höher war. Sie lag deutlich über 10%, in manchen Ländern bei 15%, ganz anders als heute. Die gegenwärtige Inflation ist meines Erachtens eine temporäre Versorgungskettenunterbrechung, deren Bewältigung etwas länger dauert, vor allem wegen der Energie- und Nahrungsmittelausfälle durch den Krieg.

© Lu Hongjie / Costfoto/Sipa USA

Eine Reihe an Gründen trägt dazu bei, dass mich diese Inflation weniger beunruhigt. Dennoch handelt es sich um ein politisches Problem auf das wir reagieren müssen. Drei oder vier Dinge müssen getan werden. Unglücklicherweise sind die Öl- und Gasunternehmen in etwas verwickelt, dass man nur als “Kriegsgewinne” bezeichnen kann. Es muss deutlich gemacht werden, dass es keine Preistreiberei und keine Kriegsprofiteure geben darf. Die Gewinne dieser Unternehmen steigen enorm, weil sie selbst die Reserven besitzen. Die großen Ölunternehmen kaufen kein Öl von anderen, der Wert ihrer eigenen Reserven ist gestiegen. Die Produktionskosten sind nicht drastisch hochgegangen, somit ziehen sie überwiegend Vorteile aus der Öl- und Gasknappheit; das gehört zum Prozess der Marktanpassung.Kurzfristig gibt es wenig Möglichkeiten zur Anpassung, also profitieren sie von diesen höheren Preisen. In den USA wurden Gesetzentwürfe vorgelegt – von Ro Khanna im Repräsentantenhaus und von Sherrod Brown im Senat – um Preistreiberei zu begrenzen und eine Zusatzbesteuerung für Unternehmen zu erlassen, die sich daran beteiligen. Ich selbst habe vorgeschlagen, dass ein Teil dieser Gewinne oder der Steuereinnahmen genutzt werden kann um jenen zu helfen, die von der Inflation negativ betroffen sind, in dem man für diese Menschen gestiegene Heiz- oder Benzinkosten ausgleicht.

Schließlich gilt es zu erkennen, dass dies ein gemeinsames Problem ist und manche Länder stärker betroffen sein werden als andere. In Europa und auch zwischen Europa und den USA sollte mehr geteilt werden. Es gilt anzuerkennen, dass der Krieg in der Ukraine Kosten mit sich bringt. Wenn man zusammen kämpft, ist es ist wichtig, solidarisch zu sein und die Kosten zu teilen. 

Ökonomen haben auch zu Russlands gescheiterter Transition vom Kommunismus zu einer Marktwirtschaft etwas zu sagen. Wir müssen einsehen, dass dieser Übergang nicht erfolgreich war und fragen, warum dem so ist. Teilweise hat es mit der Schocktherapie zu tun, der Politik des “Washington Consensus” und den neoliberalen Doktrinen, die diese Transition geleitet haben. Man hätte mehr Gewicht auf Demokratie und Zivilgesellschaft legen sollen. Wäre das getan worden, hätte es vielleicht eine Möglichkeit gegeben, dass Russland einen anderen Weg genommen hätte. Auch die USA müssen auch ihre Fehler anerkennen, wie die Korruption bei den Hilfen der US-Regierung an Russland. 

Ein weiterer Aspekt, über den Ökonomen diskutieren, ist die Rolle von Information und Desinformation. Den Nobelpreis erhielt ich für Forschung darüber, wie Menschen mit verschiedenen Informationen umgehen. Damals haben wir uns nicht mit dem Problem der gewollten Desinformation beschäftigt – heute ist das ein bedeutendes Problem. Es gibt eine Reihe von digitalen Bedrohungen, so wie Hetze oder die Impfgegner-Bewegung. Eine zentrale Frage lautet, ob das in einem demokratischen Rahmen zu kontrollieren ist und ich glaube daran, dass man Desinformation zumindest besser kontrolliert werden kann. Ein wichtiges Projekt, das Europa unter der französischen Ratspräsidentschaft in Angriff nimmt, ist die DMA- und DSA-Verordnung, mit der Europa eine führende Rolle bei der Regulierung übernehmen und die globale Agenda setzen kann.

Mit dem Budapest-Memorandum, in dem die Ukraine ihre Nuklearwaffen aufgab, sind wir eine Verpflichtung eingegangen, der Ukraine zu helfen und wir müssen dem gerecht werden.

Joseph E. Stieglitz

Abschließend bleibt zu sagen, dass eine moralische Verpflichtung besteht, alles Mögliche zu unternehmen um der Ukraine zu helfen. Mit dem Budapest-Memorandum, in dem die Ukraine ihre Nuklearwaffen aufgab, sind wir eine Verpflichtung eingegangen, der Ukraine zu helfen und wir müssen dem gerecht werden. Die Pandemie war ein Schlüsselmoment um die essentielle Notwendigkeit von staatlichem und kollektiven Handeln zu erkennen. Die Invasion beendet die Vorstellung eines Endes der Geschichte. Fukuyama ging davon aus, dass der Fall des eisernen Vorhangs das Ende der Geschichte bedeutet und wir uns fortan alle auf liberale Demokratien und freie Marktwirtschaften zubewegen. Das wirkt reichlich naiv, wenn wir heute kurz vor einem neuen Kalten Krieg stehen und wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie das Leben danach sein wird. Wir sollten auch gründlich  über den weltweit zunehmenden Nationalismus und Populismus nachdenken. In Frankreich und in den USA geht es dabei um mehr als nur um Wirtschaft. Ökonomen wollen alles durch die Wirtschaft erklären und die Wirtschaft spielt eine wichtige Rolle gespielt, es wurde verpasst für geteilten Wohlstand zu sorgen. Die Deindustrialisierung wurde nicht gut gemanaged und es gibt große Teile unserer Bevölkerung, deren Einkommen seit vierzig Jahren stagnieren. 

Vor allem sollte dieser Kampf in der Ukraine sollte als Teil eines größeren Krieges gesehen werden. Viele der erwähnten Punkte sind die Frucht der Ideen und Ideale der Aufklärung, der auch diese Institution angehört. Dazu gehört die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat, die Wissenschaft, der Fortschritt, die soziale Organisation, die gemeinsam jenes Ausmaß an Zusammenarbeit ermöglichen, das für das 21. Jahrhundert notwendig ist. Das ist die Quelle unseres Wohlstands und der Grund aus dem unser Lebensstandard so viel höher ist als vor zwei Jahrhunderten. 

Es scheint undenkbar, dass diese aufklärerischen Ideale in Frage gestellt und angefochten werden, in der Weise in der es heute geschieht. Wir müssen erkennen, dass wir so viel von unserem Wohlstand, so vieles, das wir für selbstverständlich nehmen, so viel unserer Lebensstandards, diesen Ideen und Idealen verdanken und dass wir für sie kämpfen müssen. Dieser Kampf in der Ukraine ist Teil dieses größeren Kampfes und der Kampf um die Demokratie ist ebenfalls ein Teil davon.

Fußnoten
  1. Eine  frühere Version dieses Textes wurde von Joseph Stieglitz am 15. März 2022 bei einer Konferenz des Cour des comptes in Paris vorgetragen.