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Die Lage in Afghanistan hat eine intensive Debatte auf dem europäischen Kontinent ausgelöst. Bestärkt ihr Ergebnis die Position des französischen Präsidenten Macron, der die atlantische Allianz für “hirntot” erklärt hatte?

Zunächst ist es wichtig, realistisch zu bleiben. Seit zwanzig Jahren setzen wir uns nicht nur auf militärischer und politischer Ebene, sondern auch im zivilen, humanitären und Entwicklungsbereich ein. Ich hatte die Gelegenheit, diese Zeit in meinen unterschiedlichen Funktionen zu erleben, zunächst als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (kurz BMZ), später als Premierminister Belgiens. Die Ereignisse der letzten Tage stellen ein tragisches Bild dar. Wir müssen uns eingestehen, dass trotz aller unserer Anstrengungen, die internationale Gemeinschaft gescheitert ist.

Die meisten europäischen Staaten, die in Afghanistan aktiv waren, im Rahmen der NATO und der Entwicklungsmissionen, haben sich entschieden, gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in der Geschichte angewandt wurde, sich mit den Vereinigten Staaten zu solidarisieren.

Als Europäer treibt mich retrospektiv besonders um, dass, als die Vereinigten Staaten, unter der Präsidentschaft Trumps die Entscheidung trafen, mit den Taliban zu verhandeln und schließlich deren Rückzug bestätigten, sich nur wenig – wenn überhaupt – mit ihren europäischen Partnern abgestimmt haben.

Wird die Europäische Union daraus etwas lernen?

Selbstverständlich müssen wir uns als Europäer ermutigen, eine Vielzahl von Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Krise in Afghanistan verstärkt und befestigt eine Überzeugung, die ich schon seit langem vertrete und die ich mit vielen teile, nämlich die, einer strategischen Autonomie der Europäischen Union. Diese sollte unsere Fähigkeit zur Einflussnahme bezüglich unserer Interessen und Werten verstärken und die Handlungsfähigkeit stärken. 

Konfrontiert mit der Beschleunigung der chaotischen Situation während des Abzugs der US-Truppen stellen wir uns viele Fragen. Die Tatsache, dass eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, nämlich die Europäische Union, ein demokratisches Schwergewicht mit äußerst starken Werten, eine militärische Kampfkraft, die aus 27 Staaten besteht, nicht in der Lage ist, die notwendige Hilfe für die Evakuierung  ihrer Staatsangehörigen und der Afghanen, die sie unterstützt haben, ohne die Beteiligung der Vereinigten Staaten zu gewährleisten, stellt uns vor eine bittere Wahrheit. Aus meiner Sicht macht diese Realisierung nur deutlich, dass wir eine intensivere Debatte über die Stärkung der strategischen Autonomie Europas führen müssen. Jetzt müssen wir Worte in Taten umzusetzen. 

Ich möchte es ausdrücklich betonen, die Verstärkung der strategischen Autonomie Europas ist eine gute Idee für den ganzen Kontinent, sowie für den Rest der Welt, denn die Werte, für die wir stehen, sind universelle Werte der Würde und des Respekts des Einzelnen. Wir schlagen eine auf Regeln beruhende Ordnung vor. Diese ist auch für unsere Verbündeten gut: es ist immer besser, sich in einer Allianz zu befinden, wo alle Partner über eine gewisse Interventionskraft verfügen.

Haben Sie diesbezüglich den Eindruck, dass das Kabinett Biden als guter Verbündeter Europas während der Evakuierung aus Afghanistan gehandelt hat?

Die Vereinigten Staaten sind ein großer Verbündeter Europas, daran besteht kein Zweifel. Unsere Geschichte, unsere Werte, unsere Vorstellung von liberaler Demokratie verbinden uns, auch in Zeiten, in denen liberale Demokratien unter Druck stehen und neue Formen von Bedrohungen und Gefahren deren Stärken und Attraktivität untergraben. Es ist jedoch sicher, dass wir uns auf geopolitischer Ebene in letzter Zeit nicht immer einig waren, nicht nur in Hinsicht auf unsere gemeinsame Interessen, sondern auch über die Art und Weise, wie wir Ziele erreichen wollen. Das bezieht sich nicht nur auf Afghanistan, sondern betrifft auch andere internationale Themen, darunter Syrien und Iran.

Sehen Sie insofern eine gewisse Kontinuität zwischen den Präsidentschaften von Trump und Biden?

Ich bin davon überzeugt, dass die Präsidentschaft von Biden die europäische Integration aufrichtig befürwortet, und das scheint mir sehr wichtig zu sein. Mein Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten während des letzten G7-Gipfels im Rahmen des bilateralen EU-USA Gipfels hat mich in dieser Ansicht bestärkt. Ich habe ihn als recht engagiert und offen wahrgenommen. Sein politischer Werdegang dient dafür als Beleg. Das ist der große Unterschied zu Trumps Regierung, die eine einseitige und vereinfachende Vision der Welt hatte: “Ich bin stark, du bist schwach. Und wenn du stark bist, dann bin ich schwach.” Schließlich erleben wir eine Wiederaufnahme eines normalen und fruchtbaren Dialogs, der uns in wenigen Monaten ermöglicht hat, Konsens in Themenbereichen herzustellen, die für unsere gemeinsamen Interessen wichtig sind.

An der Klimafront erfolgten mit der Rückkehr der USA zum Pariser Klimaabkommen Fortschritte. Wir können deutlich sehen, dass in vielen geopolitischen Themenbereichen ein enger Dialog wieder entstanden ist, der mit  der vorherigen Regierung praktisch verschwunden war. Davon abgesehen habe ich den Eindruck, dass es ein struktureller Trend in den USA ist, dass die Vereinigten Staaten – auch vor Donald Trump, obwohl er es deutlicher machte – die amerikanischen Interessen klar in den Vordergrund stellen.

Über diese Realität, die absolut legitim ist, müssen wir uns klar sein. Ich kann die innenpolitischen Gründe verstehen, die dazu geführt haben, dass Präsident Biden am Rückzug aus Afghanistan festgehalten hat. Diese legitime und souveräne Entscheidung der Vereinigten Staaten kann ich nachvollziehen. 

Als Europäer verfügen wir über Werte, die stark sind. Auch wir müssen unsere Bürgerinnen und Bürger schützen, unsere Interessen verteidigen. Afghanistan ist ein historischer Zeitpunkt, der uns als Europäer gemeinsam den Spiegel vorhält und uns zur folgenden Frage führt: “Wie können wir zukünftig geopolitisch mehr Einfluss nehmen als heute, und wie sollten wir handeln, um den Verlauf der Ereignisse so zu beeinflussen, dass sie unseren Interessen entsprechen?”

Müssen wir uns in der strukturellen Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China positionieren, um unsere eigenen geopolitischen Interessen zu definieren?

Wir dürfen keinesfalls dieser Rivalität zum Opfer fallen. Wir teilen zweifellos die gleichen demokratischen Werte und dasselbe politisches Modell mit den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig müssen wir als Europäer unsere Strategie gegenüber China, die eine Weltmacht ist, klar definieren. In diesem Kontext haben wir in den letzten Monaten im Europäischen Rat versucht, unseren Umgang mit China zu definieren.

Welcher ist das?

Wir können ihn in drei Punkten zusammenfassen: zunächst der Wille, unsere Grundprinzipien, wie die Menschenrechte, mit aller Entschiedenheit und Strenge durchzusetzen. Deshalb haben wir einen Rahmen geschaffen, der uns dazu veranlasst, Maßnahmen zu ergreifen, wenn es nötig ist. Wir haben uns beispielsweise sehr deutlich zu den Uiguren oder Hongkong geäußert. Zweitens die Freiheit zum Meinungsaustausch über globale multilaterale Themen, bei denen wir einen Dialog für notwendig halten, darunter die Corona Pandemie, selbst wenn es sich hierbei um einen schwierigen Dialog handelt. Wir brauchen vollständige Transparenz, auch wenn wir noch nicht davon überzeugt, dass China in Bezug auf den Ursprung des Virus völlig transparent ist. Klima und Biodiversität gelten ebenfalls als Beispiele für zentrale Diskussionen, die wir mit China führen müssen. Und schließlich ist da die Wiederherstellung des Gleichgewichts in den Handelsbeziehungen, und generell in den Wirtschaftsbeziehungen. Das war andererseits der Sinn des Entwurfs des Handelsabkommens mit China, das aus meiner Perspektive eine erste Etappe zur Wiederherstellung des Gleichgewichts bezüglich des Zugangs zu den jeweiligen Binnenmärkte dargestellt hat. 

Falls diese Rivalität zu stark wird, könnte die Europäische Union dennoch in der Lage sein, eine eigene, autonome Position aufzubauen? Oder würde sie letztendlich umkippen? 

Darüber haben wir während des letzten G7 Gipfels, der die wichtigsten liberalen Demokratien und Wirtschaftsmächte zusammenbringt, sehr lange gesprochen.

Das Ziel ist gemeinsam und geschlossen aufzutreten. Es wäre ein großer Fehler, wenn die liberalen Demokratien auseinanderbrechen würden. Doch gemeinsam und geschlossen bedeutet noch lange nicht, dass wir einer Position folgen, die uns aufgezwungen wird. Es handelt sich um einen Prozess der kollektiven Intelligenz, der es Verbündeten und Partnern ermöglicht, gemeinsam eine Position und eine Strategie zu entwickeln. Wir konnten diesen Prozess tatsächlich während des G7-Gipfels beginnen und es wäre meines Erachtens wünschenswert, ihn mit allen uns nahestehenden Partnern fortzusetzen. Wir alle müssen versuchen, uns zu engagieren, um zusammen die beste Art und Weise zu erörtern, wie wir unsere Interessen bewahren können.

Die Definition von europäischen Interessen weicht uns manchmal aus. Sie sind ein privilegierter Beobachter der internen geopolitische Dynamik: welche Bedrohungen könnten Ihrer Meinung nach die Mitgliedstaaten zu einem kollektiven Narrativ zusammenbringen?

Ich werde Ihre Frage anders beantworten. Unsere Generation – die, das sollten wir hier betonen, erst die dritte Generation in der Geschichte der europäischen Integration ist, dieses außergewöhnliche politische Projekt im engsten Wortsinn – braucht ein positives Projekt, einen vorausschauendes Projekt, ein Projekt für und nicht gegen etwas, das sich nicht lediglich hinsichtlich seiner Ängste und Sorgen positioniert.

Dieses Narrativ ist in drei zentrale Teile strukturiert. 

Das erste Element, besteht ohne Zweifel aus unseren Grundwerten. Diese schützen wir unermüdlich: Wie können wir dieses europäische Projekt schützen und fördern, das durch den Ausdruck der Menschlichkeit, des Humanismus, der Würde jedes Einzelnen, der Grundsätze der Freiheit, der Nichtdiskriminierung, der Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet ist? Diese Werte bilden die Säulen des europäischen Projektes. Dies ist nicht nur ein gemeinsamer Raum. Die Gesellschaft, in der wir leben und die wir weiterhin aufbauen werden – sei es im Hinblick auf die Herausforderung der Digitalisierung, des Klimawandels oder verschiedenen hybriden Bedrohungen – wird verstärkt eine Debatte zu persönlichen Freiheiten befördern. Daran glaube ich fest. Die Frage des demokratischen Rahmens stellt sich von alleine: Verfügen wir wirklich über die notwendigen politischen Instrumente, um diese persönlichen Freiheiten vollständig zu garantieren ?

Das zweite Element, das für den Aufbau des gemeinsamen europäischen Narrativs wichtig ist, beinhaltet die Festlegung des zukünftigen Wohlstandsmodells. Diesbezüglich möchte ich anmerken, dass auch wenn die Zuwanderung manchmal zu Spannungen führt, dies letztendlich daran liegt, dass die Europäische Union ein attraktiver Ort für Menschen im Ausland ist, die glauben, dass in Europa die Lebensbedingungen besser sind, die Freiheiten stärker und die Menschenwürde durch politische Rahmenbedingungen besser geschützt wird.

Wir müssen uns die folgende Frage stellen: Welches Modell möchten wir zukünftig verteidigen und fördern? In diesem Zusammenhang haben wir sehr klare Entscheidungen getroffen: Es ist nicht einfach, doch wir werden sie umsetzen.

Entlang welcher Achsen wird sich diese Umgestaltung bewegen?

Die Digitalisierung und der Klimawandel kündigen einen umfassenden Wandel der Struktur und des Modells an, womit unsere aktuelle Generation konfrontiert ist.

Ich bin fünfundvierzig Jahre alt. Für meine Eltern und Großeltern, vermutlich auch für mich vor 15 oder 20 Jahren, basierte das Denkmuster hinsichtlich Produktionsweise und Konsum auf der Annahme, dass wir durch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – in der Illusion sie seien unendlich – automatisch in Europa und im Westen allgemein, den Wohlstand vermehren und die Lebensbedingungen verbessern könnten.

Wahrscheinlich war der Glaube an dieses Modell ein guter Glaube. Doch seit mehreren Jahren zeigt uns die Wissenschaft, – zugegebenermaßen hat es lange gedauert, bis wir die offensichtliche Wahrheit akzeptiert haben – dass dieses Modell untragbar ist und die Menschlichkeit ernsthaft in Gefahr bringen würde. 

In den letzten Jahren und vor allem in den letzten Monaten in Europa, konnten wir es schaffen dieses Modell umzustellen, und gedanklich eine 180-Grad-Wende zu schaffen. Nichts weniger steckt hinter dem Beschluss, den wir noch vor der Coronakrise gefasst haben, des berühmten  Green Deal, der die Verpflichtung zur Klimaneutralität bis 2050 festlegt, die Verstärkung der Klimaziele bis 2030 und die dringende Notwendigkeit voraussetzt, die Biodiversität zu schützen und das Artensterben zu stoppen. Wir sind uns einig, dass der Umstieg von einem zum anderen Modell schwierig sein wird. Diese Transformation müssen wir aber durchlaufen, um zu einer zusätzlichen Wohlstandskapazität zu kommen. Genau dieser Wendepunkt, dieser Paradigmenwechsel, ist heikel. Wir stehen derzeit inmitten eines Kampfes und wir müssen noch viel leisten, wenn wir unser heutiges Modell verändern wollen. Gleichzeitig trifft der Kampf gegen den Klimawandel den Kern eines Dilemmas der Demokratien:  wie vereinen wir kurzfristige und langfristige Ziele?

Das politische Engagement in einer Demokratie richtet sich andauernd auf den nächsten Wahlkampf: nun müssen wir aber über die Auswirkungen unserer Entscheidungen nachdenken, nicht für die nächste Wahl, sondern für die nächsten Generationen.

Welche wäre ihres Erachtens nach die dritte Zutat, die in der gemeinsamen europäischen Narrative enthalten sein sollte?

Das bringt uns wieder auf die Frage der Stabilität, der Sicherheit und des geopolitischen Einflusses. Wie können wir alle 27 europäischen Mitgliedstaaten näher zusammen bringen, so dass wir gemeinsame Positionen im Hinblick auf Analyse, Diagnose sowie Fähigkeiten entwickeln, um unsere Interessen zu verteidigen?

Wir haben eine besondere Geschichte: Europa war die Ansammlung unterschiedlicher Nationen, jede mit ihrer eigenen Weltanschauung, die im Rahmen ihrer Souveränität vertreten wurde und somit der Verteidigung der eigenen geopolitischen Interessen. Es wird jedoch immer deutlicher, dass es – mal erfolgreich, mal erfolglos – Bewegung und Fortschritte gibt. Das wird sicherlich noch Zeit in Anspruch nehmen. Doch wenn wir Schocks ausgesetzt sind – und Afghanistan steht exemplarisch dafür – wird eine institutionelle Fähigkeit notwendig sein, um schneller handeln zu können. Ich denke, daran müssen wir arbeiten. Das versuchen wir umzusetzen. 

Gehen wir einen Schritt zurück und nochmals zu den drei Teilen des kollektiven Narrativs. Für das erste stellt sich die offensichtliche Frage: sind die Werte der PiS (Prawo i Sprawiedliwość) oder des Fidesz mit den Grundwerten vereinbar, die Sie als Grundbestandteil des europäischen Projekts genannt haben?

Diese Frage wurde auch den europäischen Staat- und Regierungschefs gestellt und auch die europäischen Institutionen beschäftigen sich damit. Ob im Parlament, in der Kommission oder im Europäischen Rat, die Debatte ist offen, nicht nur gegenüber Polen und Ungarn, sondern auch bezüglich anderen europäischen Mitgliedstaaten. Stimmen die Entscheidungen und Orientierungen mit den europäischen Grundrechten überein?

Es handelt sich dabei um ein aktuell heikles Thema, wovor wir nicht wegschauen. Wir sehen diesem Problem direkt in die Augen. Um ein anschauliches Beispiel zu geben: Letztes Jahr während der großen Verhandlungen, die zum Europäischen Solidaritätspakt führten, haben wir entschieden, ein System aufzusetzen, das festlegt, dass Finanzierungen unter dem Respekt der Rechtsstaatlichkeit erfolgen müssen. Dieses Instrument verstärkt das Arsenal innerhalb des europäischen demokratischen Rahmens und stellt den europaïschen Institutionen zusätzliche Mittel zur Verfügung, um strenger im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte handeln zu können.

Die zweite Zutat ist Wohlstand. Gehen Sie davon aus, dass das europäische Modell der ökologischen Transformation mit den Modellen Chinas und der Vereinigten Staaten konkurrieren kann? Überschätzen wir nicht die positive Auswirkung des Wandels, der auf uns zukommt?

In diesem Bereich ist Europa die Lokomotive der Welt. Das steht fest und wir haben es in den letzten Jahren bewiesen. Daran bestehen keine Zweifel: Wir sind Vorreiter. 

Allerdings, ist die Vorreiterrolle in erster Linie eine moralische Pflicht. Das ist eine konkrete Form, unsere gemeinsame Werte  – darauf werde ich zurückkommen – und unsere Vision der Menschenwürde als zentrale Bestandteile dieses politischen Projekts zu verteidigen. Ich vermute also, dass es kein Zufall ist, dass Europa die Region der Welt ist, die diese Ambition stärker vorantreibt.

Nun es ist tatsächlich so, dass, als wir uns entschieden haben, die europäische Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, uns nur dem einfachen Teil der Aufgabe angenähert haben. Jetzt kommt der schwierige Teil: Was sollen wir tun um das Ziel, das wir uns gesetzt haben, zu erreichen? Wir lernen aus dieser Aufgabe, dass Europa weder eine Insel noch ein abgeschotteter Kontinent ist: Wir müssen international vorgehen und das, was ich Klimadiplomatie nenne, in Gang setzen, damit wir andere Akteure anspornen, ähnliche Ambitionen zu haben wie wir. Der Grund ist sehr einfach: Ohne Bemühungen werden wir Probleme beim Gleichgewicht internationaler Wirtschafts- und Handelsbeziehungen haben.

Wir müssen die Auswirkungen solcher Maßnahmen auf die europäische Bürgerinnen und Bürger sowie auf unsere Wirtschaftsakteure beachten. Hohe Standards und ambitionierte Ziele aufzusetzen, wäre in einer stark globalisierten Wirtschaft problematisch, wenn wir zugleich anderen den Zugang zu unserem Binnenmarkt mit Produkten und Produktionsmitteln, die nicht die gleichen Standards aufweisen, erlauben.

Diesbezüglich, haben wir im letzten Jahr – interessanterweise, als wir die Debatte über einen europäischen Haushalt und die Rückzahlung der gemeinsamen Schulden führten – auch die Frage der Eigenmittel behandelt. Innerhalb der Europäischen Union haben wir eine demokratische Debatte geführt, wie wir zu einem unumkehrbaren Mechanismus gelangen können. Was haben wir als neue Eigenmitteln identifiziert? Die Plastiksteuer und der Kohlenstoffpreis sind die Hauptmaßnahmen, zusammen mit dem Vorschlag eines CO2-Grenzausgleichmechanismus, welches zu verschiedene Reaktionen von Supermächten in anderen Weltregionen, wie China und die Vereinigten Staaten, befeuert hat.

Aus meiner Sicht, sind wir dabei, innerhalb der EU, ehrgeizige Programme hinsichtlich Klima und Biodiversität aufzustellen. Wir wechseln die Software, das Paradigma, wir ergreifen komplett innovative Maßnahmen und senden der Wirtschaft die Botschaft: dieses ökonomische Modell, das der Welt schadet und sie in Gefahr bringt, werden wir verlassen.

Während wir das tun, müssen wir mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, durch Diplomatie, Wahrung unserer Interessen und unserer geopolitischen Strategie, andere Akteure dazu antreiben, sich ebenfalls zu engagieren. Die CO2-Grenzsteuer dient genau dazu.

Welche konkreten Mitteln begleiten diese Geopolitik des Klimas aus der Sicht der Europäischen Union?

Ich denke wir verfügen über zwei wichtige Hebel auf der internationalen Bühne, um das Modell sowohl in Europa als auch weltweit zu gestalten.

Erstens, der Kohlenstoffpreis. Wir müssen herauszufinden, ob wir in der Lage sind, ein ähnliches Modell wie das EU-Emissionshandelssytem (kurz ETS) aufzusetzen, um zunehmend in die gleiche Richtung zu weisen. Die Stärke Europas ist, Standards zu setzen. Schrittweise stellen wir fest, dass andere Staaten einen ähnlichen – oder sogar den gleichen – Ansatz verfolgen.

Danach kommt ein umweltfreundliches Finanzwesen. Schließlich braucht die neue Steuerzentrale monumentale Investitionen. Öffentliche Staatsgelder allein können die notwendige finanzielle Last nicht tragen: dafür müssen wir private Investitionen kanalisieren und Standards für Finanzprodukte bestimmen, um sie umweltfreundlicher zu gestalten und zu Vorbildern zu machen.

Es ist eine Herausforderung, die demokratische Debatte über den Preis des Kohlenstoffs zu führen, weil es dabei um eine Frage der Kaufkraft geht. Diese Debatte findet im Zusammenhang mit dem Fit-for-55-Paket und der Frage der umweltfreundlichen Finanzierung statt. Es geht darum, Standards für Finanzprodukte festzulegen, um Investitionen zu steuern, da wo sie zur Verwirklichung dieses Wandels beitragen, und Investitionen beenden, die aus dem bisherigen Modell entstehen, das nicht mehr unserem Entwicklungsmodell entspricht.

Gehen wir noch einmal auf das dritte Element Ihres positiven Narrativs zurück. Wenn wir eine Karte der Europäischen Union betrachten, stellen wir fest, dass es rund um ihre Grenzgebiete, von Minsk bis zum Maghreb, eine Reihe von Krisen unterschiedlicher Intensität gibt, die einen Bogen der Krisen bilden. Warum sind wir angesichts dieser heterogenen kritischen Situation nicht in der Lage, eine systematische und gemeinsame Antwort zu entwickeln?

Damit bin ich nicht einverstanden. Im Gegenteil, meiner Meinung nach verfügen wir über gemeinsame Stellungnahmen gegenüber instabilen und gefährlichen Krisensituationen in der unmittelbarern Nähe Europas und ich kann das erläutern. Nehmen wir das Beispiel Weißrussland. Unverzüglich nach der Wahl im vergangenen Jahr haben wir einen gemeinsamen europäischen Standpunkt vertreten: wir haben die Wahlergebnisse nicht anerkannt. Zweitens haben wir wirtschaftliche Sanktionen eingeführt. Daraufhin sind uns das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten gefolgt und haben Sanktionen nach unserem Modell eingeführt.

Haben Ihrer Ansicht nach die Sanktionen zur Lösung der Krise in Weißrussland beigetragen?

Die Sanktionen haben die Krise nicht gelöst, das stimmt, doch sie äußern den Widerstand der Union und deren klare Haltung, weil alle Mitgliedstaaten zur Entscheidung beigetragen haben.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: das östliche Mittelmeer, das im letzten Sommer große Sorgen ausgelöst hat. Sorgen, die aufgrund potentiell schwerer militärischer Zwischenfälle zugenommen haben. Zusammen mit den siebenundzwanzig Staats- und Regierungschefs haben wir über Monate an einer gemeinsamen Position gegenüber der Türkei gearbeitet, ein wichtiger Partner im Rahmen der NATO.

Besonders relevant war festzulegen, in welcher Form wir mit Ankara zusammenarbeiten wollen und wir haben jetzt eine sehr klare Antwort: Einerseits, haben wir die Bereitschaft signalisiert,  eine inklusive – oder jedenfalls weniger negative – Agenda im Rahmen der Zollunion oder bezüglich der Migrationsfrage zu verfolgen. Andererseits haben wir eine klare Haltung gegenüber einer Reihe von Grundwerten in Bezug auf die demokratischen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel dem Schutz der Rechte der Frauen, und der Rolle der Türkei in der Region. Hier denke ich, dass die Europäische Union in ihrer Fähigkeit Positionen anzugleichen, Fortschritte gemacht hat.

Während des Europäischen Rats, kam es zu einen internen Spannungsmoment, der Weißrussland und das östliche Mittelmeer verbindet. Im September 2020 drohte Zypern damit, die Sanktionen gegen Weißrussland zu bremsen, und nutzte diesen Hebel, um gleichzeitig Sanktionen gegenüber der Türkei zu erwirken. Zeigt dieses Beispiel nicht, dass die Konstruktion einer gemeinsamen geopolitischen Vision schließlich nicht über die nationalen Interessen hinausgeht?

Das Thema ist sehr interessant, doch wir müssen verstehen, dass, was die Presse berichtet hat, nicht die Sichtweisen widerspiegelt, die am Tisch des Europäischen Rats geäußert wurden. Auf geopolitischer Ebene sind die Fortschritte im Hinblick auf gemeinsames europäisches Bewusstsein real.  Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht Fälle gibt, in denen Themen für die Mitgliedstaaten so wichtig sind, dass Einzelstaaten versuchen andere Argumente zu nutzen, um den eigenen Standpunkt durchzusetzen. Doch konkret, rund um den Tisch, konnten wir das Problem im östlichen Mittelmeer und das Problem in Weissrussland separat behandeln.

Können Sie diesen Punkt ausführen?

Ich kann zu den Beratungen des Europäischen Rats hinter geschlossenen Türen nichts sagen. Hingegen kann ich bestätigen, dass jede Debatte Raum für ihre eigene Diskussionen bekommen hat. Bezieht sich Ihre Frage auf eine mögliche Erpressung der einen Seite gegenüber der anderen Seite, lautet die Antwort: auf keinen Fall !

Jedoch müssen wir uns fragen, wie wir von diesem gemeinsamen Standpunkt, mehr Einfluss und Druck ausüben können. Es gibt keine schlüsselfertige einheitliche Lösung, die für jede Krise gilt und die wir anwenden können. Deshalb müssen wir die uns zur Verfügung stehenden Mittel sinnvoll einsetzen und immer versuchen, unsere Interessen kohärent zum Ausdruck zu bringen. Das bedeutet auch, dass wir manchmal auf unsere militärische Kraft zurückgreifen und manchmal die Entwicklungshilfe oder die humanitäre Hilfe als Lösung für Stabilität einsetzen.

Die zahlreichen Hebel, die wir haben, müssen wir nutzen, allerdings koordiniert auf europäischer Ebene, sowie zwischen den Mitgliedstaaten. Um mehr Einfluss auszuüben, ist es sinnvoll diese Hebel so gut und kohärent wie möglich einzusetzen.

Warum scheint der Europäische Rat manchmal blockiert, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel auch zu nutzen?

Das würde ich so nicht behaupten. Wir setzen sie ein, aber nicht mit der notwendigen Kohärenz. Das hängt auch mit der institutionellen Struktur der Europäische Union zusammen: Einerseits haben wir Mitgliedstaaten mit Entscheidungsbefugnissen und Einflussmöglichkeiten gegenüber bestimmten Regionen der Welt und auf der anderen Seite gibt es die verschiedenen Verwaltungen innerhalb der Europäischen Kommission. Diese Struktur verdeutlicht die Notwendigkeit, unseren horizontalen Ansatz  zu verbessern.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, dass die Beziehungen mit Afrika einer der Schlüsselthemen sind. Darüber hat Europa gewaltige Handlungskapazitäten und Hebel, jedoch setzen wir unsere Ressourcen nicht immer konsequent und koordiniert ein. Wir haben eine Handelspolitik, eine Visapolitik, eine Entwicklungspolitik, technische Expertise und viele Ressourcen, worüber wir verfügen. Doch es mangelt an einer einheitlichen Steuerungszentrale, um sie einzusetzen.

Sind Sie nicht der Meinung, dass – vor dem Hintergrund der grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten – die Einstimmigkeit den Aufbau einer strategischen Autonomie einschränkt?

Ich weiß, dass ich eine ungewöhnliche Position zur Einstimmigkeitsregel vertrete. Es ist fast schon zu einem Cliché geworden und eine gängige Einschätzung: Die Einstimmigkeitsregel sei eine Bremse, eine Ursache der Schwäche für die Europäische Union. Auf den ersten Blick verstehe ich diese Interpretation. Ich war selbst oft enttäuscht, dass es lange dauert, bis über eine wichtige Frage entschieden wird. Ich verstehe diese Ungeduld und dieses Denkmuster. Allerdings glaube ich auch, dass wir sorgfältig nachdenken sollten, bevor wir uns von einer falschen guten Idee täuschen lassen. Achtung: Dabei sage ich nicht, dass es sich hier um eine Scheindebatte handelt, sondern, dass wir uns die richtigen Fragen stellen müssen.

Warum glauben Sie, dass dies eine falsche gute Idee sein könnte?

Wenn wir darüber nachdenken, ist es offensichtlich: Wenn wir vereint sind, sind wir stark. Jedes Mal, wenn wir nicht gemeinsam auftreten, sind wir schwach und haben keinen Einfluss. Die Gefahr, wenn wir zu schnell auf die Einigkeit verzichten, ist, dass wir uns nicht mehr um diese Einheit bemühen und Situationen schaffen, die einigen Mitgliedstaaten den Eindruck vermitteln, dass ihre Sichtweisen unwichtig oder nicht willkommen wären. Da wir sie ohnehin nicht brauchen würden, gäbe es für sie keinen Grund mehr sich anzustrengen, um ein gemeinsames Projekt aufzubauen.

Selbstverständlich benötigt Einstimmigkeit den politischen Wille, viel Kraft und Energie. Doch diese Regel, wenn sie funktioniert, führt uns zur Einigkeit und damit zur Stärke und schließlich zu Einfluss und Macht.

Aufgeben – auch wenn es auf den ersten Blick vernünftig erscheint –  bedeutet das Risiko einzugehen, die Konstruktion des europäischen Projekts zu schwächen.

Ein Thema scheint zentral für die inneren Spannungen und Widerstände zu sein: Russland. Starke nationale Sensibilitäten tauchen auf. Gegenüber Russland unterscheiden sich die Ansichten Estlands oder Polens von denen Spaniens, Frankreichs oder Deutschlands. Gibt es die Möglichkeit im Rat eine Harmonie zwischen diesen scheinbar unvereinbaren Visionen herzustellen?

Zuerst handelt es sich nicht um unvereinbare Visionen. Dann wären wir jedes Mal geteilter Meinung gewesen, wenn wir Sanktionen gegen Russland verhängen mussten. Seit der Entscheidung über die Sanktionen haben wir immer und ohne Schwierigkeiten einen Konsens erreicht.

In den letzten Monaten habe ich mir die Öffnung einer strategischen Debatte gewünscht: Ich habe die Arbeit über China bereits erwähnt. Russland ist Teil dieser Verhandlungen. Ich denke, um ein gemeinsames, europäisches, geopolitisches Bewusstsein zu entwickeln, müssen wir zunächst den gleichen Informationsstand haben. Das bedeutet miteinander zu kommunizieren, Informationen zu teilen. Wir sprechen hier von kollektiver Intelligenz, im doppelten Sinne des Wortes intelligence, im Französischen und im Englischen. Ich habe mich bemüht, allen einen Raum zu geben, um deren Einschätzungen zu all diesen Themen zu hören. Dieser gegenseitige Erkenntnisprozess hat in letzter Zeit stark zugenommen.

Viele unter uns teilen die Meinung, dass wir gegenüber Russland eine Strategie brauchen, die nicht lediglich darauf basiert, auf Provokationen, Versuche der Destabilisierung und unmittelbaren Druck zu reagieren. Wir müssen proaktiv denken. Das bedeutet, dass wir uns überlegen müssen, welche Mitteln wir einsetzen wollen, um unsere Interessen zu verteidigen. Es bestehen zwei entscheidende Elemente. Zum einen ist da die Östliche Partnerschaft: Das sind unsere Nachbarn, und es liegt in unserem Interesse, dass diese Länder wirtschaftliche Entwicklung, Wohlstand und Stabilität erfahren und möglichst viele unserer Werte teilen. Zum anderen haben wir den westlichen Balkan. Wir können diese beiden Themenfelder nicht im europäischen Kühlregal in Brüssel unterbringen und alle zwei Jahre einen Gipfel organisieren, um Ankündigungen zu formulieren, die keine praktischen und greifbaren Auswirkungen für die Menschen vor Ort haben. 

Deshalb habe ich in aller Bescheidenheit, im Rahmen der östlichen Partnerschaft, meine Ärmel hochgekrempelt, um mich in Georgien, Moldawien und im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt in Berg-Karabach engagiert. Deshalb habe ich schließlich einen klaren und starken Standpunkt gegenüber Weißrussland unterstützt. Aus diesem Grund habe ich vor zwei Tagen am Forum in Bled teilgenommen – informell, jedoch sehr nützlich – zur Vorbereitung des Gipfels, der im Oktober stattfinden wird, und der nach einem virtuellen Treffen unter der kroatischen Präsidentschaft veranstaltet wurde. Wir brauchen greifbare Ergebnisse. Unsere Handlungen müssen sicht- und spürbar sein. Darum müssen wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Investitionen in diesen Ländern fördern und für unsere Standards werben. Ich komme zurück zu unseren Werten, die auch unser Wohlstandsmodell strukturieren: das Binom “Digitales und Klima” ist der Kompass, der uns den Weg weist.

„Geopolitik“ ist heute überall präsent, aber bis vor kurzem gehörte sie nicht zum alltäglichen Wortschatz in Brüssel. Wie erklären Sie ihre plötzliche zentrale Bedeutung?

Meiner Meinung nach nimmt der gesunde Menschenverstand zunehmend die Oberhand. Wenn wir in der heutigen welt die Augen aufmachen, wird uns allen klar, dass kein Mitgliedstaat der Europäischen Union – nicht mal der mächtigste, der innovativste und die erfindungsreichste – allein seinen Einfluss gegen die wirtschaftlichen, militärischen oder geopolitischen Mächte alleine geltend machen kann. Insbesondere gegenüber Großmächten, die ihre Visionen und ihre Interessen verteidigen und versuchen, ihre Werte zu fördern. Der europäische Politikraum als Gesamtheit hat hingegen die Möglichkeit einen echten Einfluss auszuüben.

Sogesehen besteht fast der Eindruck, dass der Rat die letzte Instanz für die Ausrichtung der europäischen Politik geworden ist…

Ich werde Ihnen genau das Gegenteil sagen: es handelt sich um ein Ort der ersten Instanz, was wiederum konform mit den Verträgen ist – ein sehr wichtiger Faktor. Es handelt sich um diesen politischen Raum, in dem wir beim Gipfeltreffen der Mitgliedstaaten zwischen den Staats- und Regierungschefs uns gegenseitig in die Augen schauen und uns zuhören. Manchmal sprechen wir ganz ehrlich aus, was wir zu sagen haben. Manchmal führen wir harte Debatten. Das ist in Ordnung und manchmal ist es notwendig, um gemeinsam Stellung zu beziehen. Dies ist meine Erfahrung des Europäischen Rats.

Betrachten wir die Klimafrage: zu Beginn dieses institutionellen Zyklus, gleich nach den Wahlen, hat der Europäische Rat die Weichen für 2050 gestellt und anschließend die für 2030 verschärft. Davon ausgehend handelt die Kommission – und das ist ihre Rolle, um die Strategie und Maßnahmen festzulegen, damit diese Ziele erreicht werden. 

Ein weiteres Beispiel ist die Corona Krise. Der Europäische Rat, mit seiner starken Legitimation und Verantwortung jedes einzelnen Staats- und Regierungschefs gegenüber seinen nationalen Parlamenten, hat im März 2020 über die Form der europäischen Antwort entschieden. In diesem Raum haben wir uns auf ein Gleichgewicht geeinigt, zwischen den Aufgaben, die die Staaten auf nationaler Ebene verwalten wollten und denen, die sie auf europäischer Ebene angehen wollten.

Dank des Europäischen Rats, haben wir es ermöglicht, einen Finanzpaket zur Verfügung zu stellen, um die Forschung anzukurbeln und dazu beizutragen, dass nur ein Jahr später die ersten Impfstoffe zugelassen wurden. Im Rahmen des Europäischen Rats haben wir COVAX gegründet und die Mechanismen des Solidaritätspakt in die Wege geleitet, damit Impfstoffe weltweit verfügbar sind. Und weiterhin ist es dem Europäischen Rat gelungen, mit dem europäischen Haushalt und dem Wachstumspakts, die Konturen dieser Strategie zu entwerfen, um zu verhindern, dass aus der Gesundheitskrise eine Wirtschaftskrise wird. Weil wir angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Gesundheitskrise nicht alle gleich sind, mussten wir die europäische Solidarität konsolidieren, das ist der Sinn dieses Wachstumspakts. Und schließlich war der Europäische Rat dafür zuständig, dass die Kommission an einer gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen gearbeitet hat. Ansonsten wäre es zu einem Preiskampf zwischen den Staaten gekommen. Die gemeinsamen Bestellungen, die zu Beginn heftig kritisiert wurden,, erwiesen sich bald als das einzige optimale und wirksame Modell, um allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Impfstoffen zu gewährleisten. Jetzt, am Ende des Sommers, sind 70 % der erwachsenen Bevölkerung in Europa geimpft.

Von außen betrachtet besteht der Eindruck, dass wir einer tiefgreifenden Veränderung des europäischen Konsenses gegenüber stehen, insbesondere im Hinblick auf wirtschaftliche Fragen. Stehen wir am Beginn einer neuen Phase oder  ist dies nur ein durch die Pandemie bedingtes temporäres Phänomen?

Europa und dessen Aufbau erfolgten durch Etappen, mit bestimmten Perioden der Beschleunigung. Häufig erleben wir solche Momente aufgrund externer Umstände, die den Prozess beschleunigen: das passiert jetzt auf ökonomischer Ebene, mit dem Wiederaufbaufonds, der zum europäischen Haushalt hinzukommt, und welcher bereits auf einer Logik der Umverteilung und des Zusammenhalts mit den Geber- und den Empfängerländern basierte.

Der Konjunkturplan erlaubt es uns, zunächst die Folgen der Pandemie zu bekämpfen, vor allem zugunsten bestimmter Wirtschaftssektoren und Regionen und außerdem kommen mehr Mittel für Klima und Digitales – unsere beiden zentralen Prioritäten – hinzu. Ich würde behaupten, dass es sich um eine Maßnahme handelt, die quasi unumkehrbare Mechanismen schafft. Sobald die Grundlagen dieses Wachstumsfonds eingerichtet sind, bedeutet das folgendes: Wir investieren gemeinsam und wir zahlen gemeinsam zurück. Das bedeutet, dass es uns entweder gelingt, die erwähnte demokratische Debatte über die Eigenmittel zu führen – und wir verfügen über eine breite Basis von Mitteln zur Finanzierung dieser Investitionen, oder, dass die Mitgliedstaaten ihre nationalen Beiträge erhöhen müssen, oder, dass wir die Ausgaben reduzieren müssen. An die letzte Option glaube ich aber nicht, weil wir uns zunehmend bewusst sind, dass wir das Fundament der europäischen Solidarität brauchen, um uns gegenseitig zu stärken.

Durch die Antwort auf der Pandemie und die chinesisch-amerikanische Rivalität, kündigen viele Expertinnen und Experten das Ende des neoliberalen Paradigma an.  Glauben Sie, dass sich die Rolle des Staates und die der öffentlichen Investitionen in Europa verändern wird?

Ich würde das vorsichtiger formulieren. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass Worte nicht überall in Europa die gleiche Bedeutung haben – und das ist eine der faszinierenden Herausforderungen des europäischen Projekts, aber es ist auch die Komplexität dieses Projekts ansich. Das gleiche Wort kann, je nachdem in welchem europäischen Land es genutzt wird, unterschiedliche Facetten und Bedeutungen annehmen. Das Wort liberal ist eines davon ist. Viele verwechseln beispielsweise das Wort liberal mit dem Wort ultraliberal oder neoliberal, obwohl diese Begriffe nichts miteinander zu tun haben.

Ich finde, dass der Liberalismus im wahrsten Sinne des Wortes die Autorität des Staates braucht, weil er einen Rahmen schafft, der bestimmte Regeln vorgibt, nicht zuletzt um einen freien und fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Das europäische Projekt wurde ursprünglich mit der Notwendigkeit gegründet, unfaire Praktiken und Prozesse zu verhindern, die den freien Markt beeinträchtigen und ihn schwächen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Prinzip des freien Unternehmergeistes, die Freiheit der Innovation, die Freiheit des Erfindens und die freie Wirtschaft auch morgen noch den Schlüssel sein werden, um die Herausforderung des Klimawandels und des digitalen Wandels anzupacken. Genau dieses Prinzip hat uns ermöglicht, zusammenzuarbeiten und rasch die Technologien zu entwickeln, um einen Impfstoff zu entdecken. 

Die öffentliche Hand muss ihre Unterstützung weiterhin gewährleisten, denn sie legt den Rahmen und die Ziele fest und kann Mittel mobilisieren und steuern. Ich glaube, dass wir zukünftig über dieses fruchtbare Dreieck diskutieren werden: Die Wirtschaft auf der einen Seite, die Gesellschaft, die Solidarität und die Chancengleichheit auf der anderen Seite, und schließlich die Umweltdimension. Diese drei Säulen werden die demokratische Debatte strukturieren, davon bin ich überzeugt. Doch wie kommt man an den drei Fronten parallel voran und wie verhindern wir, dass eine der drei Fronten die anderen beiden beeinträchtigt?

Sehen Sie heute einen möglichen Konsens über diese Triangulation?

Am Tisch des Rates sitzen siebenundzwanzig Regierungen mit verschiedenen politischen Prioritäten, deshalb besteht eine fortlaufende Debatte. Aber wir können nicht sagen, dass wir sehr stolz darauf sind, liberale Demokratien zu sein, und gleichzeitig Angst haben, wenn es zu tiefgründigen, manchmal hitzigen, Diskussionen kommt.

Es gibt Momente wie diesen, wenn wir mit dem Stabilitätspakt gegenüberstehen, in denen eine Debatte stattfinden wird. Am Ende der jetzt beginnenden Konsultationen werden wir zusammen mit der Europäischen Kommission Vorschläge vorlegen. Die Debatte muss also reifen, aber wir werden bestimmt Entscheidungen über unsere wirtschaftlichen Strategien im Rahmen des gemeinsamen ökonomischen Projekts treffen müssen, damit wir den Binnenmarkt stärken. Denn ein robuster Binnenmarkt ist der beste Klebstoff für das europäische Projekt. Wir werden dafür unsere gemeinsamen Werte eindeutig respektieren, gekoppelt an ein einheitliches Projekt. Wie in einer Ehe müssen wir in dieselbe Richtung blicken, gemeinsame Projekte verfolgen und uns gegenseitig respektieren – das ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit.

Haben Sie den Eindruck, dass sich im intergouvernementalen Rahmen eine Dynamik stabiler nationaler Interessen abzeichnet, die den internen politischen Spaltungen begegnen und die Festlegung mittel- und langfristiger Perspektiven ermöglichen könnte?

Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Erstens, das nationale Interesse ist nicht vorrangig gegenüber dem europäischen Interesse. Zweitens, glaube ich, dass die verschiedenen politischen Parteien in den verschiedenen europäischen Ländern und die politischen Persönlichkeiten die Antwort auf diese Frage beeinflussen.

Jedoch können wir diese Frage anders angehen. Europa steht vor einer großen Herausforderung, die den Wert und zugleich den atypischen Aspekt dieses außergewöhnlichen politischen Projekts abbilden, und zwar die doppelte Legitimität. Dies lässt sich an der Arbeit der europäischen Institutionen und an der europäischen Debatte ablesen. Es geht darum, Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden. Die Europäische Union ist in der Tat ein demokratischer Raum, ausgestattet mit demokratischen Institutionen. Dieser verfügt über das, was ich den europäischen Rechtsstaat nenne, der auf zwei Beinen steht. Auf der einen Seite gibt es tatsächlich eine zwischenstaatliche Dimension, mit der Legitimität der Regierungschefs, die jeweils ihren eigenen Parlamenten gegenüber verantwortlich sind. Auf der anderen Seite besteht eine weitere Legitimation: die des Europäischen Parlaments, mit den nationalen Wahlen der Abgeordneten, die der Europäischen Kommission ihr Vertrauen aussprechen.

Das ist doppelte Wechselbeziehung. Und sie kann zu Spannungen und Auseinandersetzungen führen. Dies gehört zur demokratischen Debatte und der Politik. Eine Entscheidung zu treffen bedeutet, ein Gleichgewicht zwischen den eigenen Interessen und den Werten, die man für wesentlich hält, zu finden. Als Premierminister Belgiens habe ich ab und zu erlebt, wie man ein großes Interesse am eigenen Staat hat, doch ebenfalls eine eine starke europäische Überzeugung und europäische Werte empfinden kann. Diese Interessen können sich teilweise überlagern oder auch widersprechen. Die Aufgabe besteht darin, sie so weit wie möglich anzunähern.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Im Bereich der Bankenunion befürworten belgische Regierungen traditionell die europäische Integration, aber es gibt bestimmte Situationen, die angesichts der Strukturen der belgischen Banken kurz- oder mittelfristig den Interessen der belgischen Finanzstruktur schaden könnten.

Das Momentum, das sich eröffnet, ist einzigartig: Deutschland wählt einen neuen Bundestag, wird aber wahrscheinlich nicht sofort eine neue Regierung haben. Frankreich zieht in den Wahlkampf. Wie wird der Europäische Rat während dieser langen Wahlperiode funktionieren, und wird er in der Lage sein, über die wichtigen Angelegenheiten Europas zu entscheiden, die uns nach der Pandemie bevorstehen ?

Wir sind eine politische Union mit einem demokratischen Rahmen und siebenundzwanzig Staaten, die an einem Tisch sitzen: Irgendwo beginnt immer eine Wahl, irgendwoanders endet eine, das ist normal. Natürlich sind Deutschland und Frankreich besonders wichtige Länder dieser Union. Jedes Mal, wenn Deutschland und Frankreich einen gemeinsamen Standpunkt vertreten, ist das gut für die EU, aber es reicht nicht aus. Wir kehren zur Logik der Einstimmigkeit zurück: Wir müssen alle siebenundzwanzig Mitgliedstaaten zum Einverständnis bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, setze ich auf gesunden Menschenverstand.