Nur wenn die Bundesrepublik mitmacht, wird ein «souveränes Europa» gelingen. Um Berlin auf seine Seite zu ziehen, darf Frankreichs Präsident Bundeskanzler Olaf Scholz weder vor den Kopf stoßen noch völlig vereinnahmen. Paris muss Berlin «einkreisen» – denn die Mitte ist Deutschlands Komfort-Zone.

Was tun, wenn man große Pläne hat, sie aber nur mit Partnern umsetzen kann? Das ist die Herausforderung des Emmanuel Macron in Europa. Nach dem Verlust der Mehrheit in der Nationalversammlung ist es nun ebenso seine Aufgabe in Frankreich, Mitspieler zu finden.

Schafft es der Staatspräsident, in seiner zweiten Amtszeit in Brüssel und Paris Verbündete zu finden? Ein Rückblick auf seine bisherige Europapolitik lohnt sich. Es lassen sich nämlich ein paar Lehren ziehen, was geht und was eben nicht geht, wenn man in einer Entente statt im Alleingang Politik machen muss.

Macron und seine Arbeit an mehr «europäische Souveränität»: Das war eine Geschichte von Versuch und Irrtum. Lang suchte der Präsident nach der geeigneten Strategie, um die EU-Partner und allen voran die Deutschen von seinen Plänen zu überzeugen. Seine Europa-Strategie durchlief drei Phasen.

1. Doch noch einmal der deutsch-französische Motor

Macron wurde 2017 mit dem Versprechen gewählt, alles anders zu machen. In der EU-Politik jedoch griff er anfangs auf alte, längst unbewährte Konzepte zurück – und erlebte dabei eine schwere Enttäuschung.

Im September 2017 hält Macron seine Europa-Rede an der Universität Sorbonne. «In erster Linie will ich Deutschland eine neue Partnerschaft anbieten», erklärt der Staatspräsident. Der EU möchte er eine Reihe «konkreter deutsch-französischer Impulse» verleihen. Macron setzt auf den vielzitierten «deutsch-französischen Motor»: auf eine Europapolitik à la François Mitterrand und Helmut Kohl. Paris und Berlin sollen jeweils Kompromisse schmieden und diese dann den übrigen Europäern verkaufen. «Wir werden durch einen Mangel an Vertrauen zwischen Deutschland und Frankreich blockiert», hat Macron bereits zuvor in seiner Berliner Humboldt-Rede erklärt.

Damit Berlin auf Touren kommt, schmiert Macron Öl in den Motorenraum. Der Präsident preist Deutschland als «Kulturnation», umgarnt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er säuselt in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag, Berlin verstehe nicht immer, was Paris wolle – aber «denken Sie daran, Frankreich liebt Sie». Es gelte, den «europäischen Gedanken» und mithin «den Traum Erasmus’, Goethes, Hugos und Zweigs zu verwirklichen».

Die deutschen Abgeordneten wissen damals nicht so recht, wie mit solcher Emotionalität und Intellektualität umzugehen sei. Weit besser verfängt aber Macrons Selbstdarstellung in deutschen Medien als zielstrebiger Reformer, der Frankreich aus der wirtschaftlichen Malaise und in den Schuldenabbau führe.

Macrons Charmeoffensive… läuft ins Leere. Kanzlerin Merkel reagiert schlicht und einfach nie auf die Sorbonne-Rede. Abgesehen von der Migrationspolitik ist Berlin damals mehr oder minder zufrieden mit der EU, wie sie ist.

Merkel will Macron trotzdem nicht ganz abblitzen lassen, denn der Präsident beginnt vor lauter Frustration, Ärger zu machen. Als ihm im Mai 2018 der Aachener Karlspreis verliehen wird, geißelt er in Anwesenheit der Kanzlerin den deutschen «Fetischismus» in Sachen Haushaltsüberschüsse.

Im Sommer 2018 vereinbaren Merkel und Macron auf Schloss Meseberg in Brandenburg eine gemeinsame Agenda für EU-Reformen. Doch der bescheidene Kompromiss ernüchtert Paris. Berlin stimmt zwar dem Grundsatz eines Budgets der Eurozone zu, aber die gewiefte Dauerkanzlerin spielt über die Bande: Die nordeuropäischen Länder stellen klar, sie lehnten ein Eurozonenbudget ab. Meseberg versandet. 

Hier zeigen sich zwei Grundprobleme der anfänglichen Europapolitik Macrons.

Bei Amtsantritt hat er angekündigt, auf die kleineren EU-Länder zuzugehen. Stark bleibt jedoch der Reflex des ungeduldigen Präsidenten, gleich auf Berlin zu setzen. Das geht schief. Früher brummte der vielzitierte «deutsch-französische Motor», weil die zwei Länder die großen Lager in der EU abbildeten, Nord- versus Südeuropa. Doch nunmehr wirkt Osteuropa mit. In der Sicherheitspolitik trauen die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder weder Paris noch Berlin über den Weg. Im Norden fühlen sich wirtschaftsliberale Länder wie die Niederlande von der korporatistischen Bundesrepublik schlecht vertreten.

Noch fataler ist, dass Macron Deutschland falsch einschätzt. Er ist in der französischen Vorstellung einer voluntaristischen Politik verhaftet. Für ihn ist evident, die EU soll «souveräner» werden, damit die Europäer ihr Modell von Menschenwürde, sozialer Marktwirtschaft und Multilateralismus auch künftig behaupten können: gegen Russlands Revanchismus, gegen Chinas Staatskapitalismus, gegen die US-Internet-Riesen.

Macron meint, Deutschland werde mitziehen – denn «wer Kant und Hegel hervorgebracht hat, kann sich nicht abschotten». Er habe Vertrauen in den europäischen Gestaltungswillen der Deutschen. Doch bereits Heinrich Heine spottete, Deutschlands Philosophen träumten radikal, überließen aber den Schritt zur revolutionären Praxis lieber den Franzosen.

In Frankreich sind Philosophen und Politiker ziemlich im Gleichschritt: Sie denken nach vorn, wollen die Welt prägen. In Deutschland sind intellektuelles Leben und Politik zwei Paar Schuh. Der Philosoph Jürgen Habermas mag seit Jahren warnen, dass das fragil-stabile Einigungsprojekt Europa nur mit weiteren großen Integrationsschritten wie eine Fiskalunion zu festigen sei. Doch das politische Berlin denkt im Jetzt und handelt erst, wenn es unbedingt muss. 1841 schrieb denn Heinrich Heine: «Die Franzosen gehen jeder Frage direkt auf den Leib und zerren daran so lange herum, bis sie entweder gelöst oder als unauflösbar beseitigt wird. … Der Deutsche, aus Scheu vor aller Neuerung, deren Folgen nicht klar zu ermitteln sind, geht jeder bedeutenden politischen Frage so lange wie möglich aus dem Wege oder sucht ihr durch Umwege eine notdürftige Vermittlung abzugewinnen, und die Fragen häufen und verwickeln sich unterdessen.»

2. Die Trotz-Phase

Als Macron schließlich einsieht, dass auch er als Reformer in Frankreich und Ideengeber in Europa Berlin nicht aus der Passivität wird reißen können, setzt seine Trotz-Phase ein. Der Präsident fällt zurück auf die klassische französische Strategie, sich gegenüber Berlin querzulegen, um etwas zu erreichen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Nicolas Sarkozy und François Hollande geht Macron seiner Widersacherin Merkel wenigstens gekonnt und mit etwas mehr Stehvermögen auf die Nerven. Im Oktober 2019 blockiert Paris den Start der Verhandlungen über den EU-Beitritt Albaniens und Nord-Mazedoniens. Im November diagnostiziert er den «Hirntod» der NATO. Zeitweise droht Paris, das umstrittene deutsch-russische Pipeline-Projekt Nord Stream 2 nicht länger zu unterstützen.

Macron erinnert die Deutschen daran, dass sie auf Frankreich angewiesen sind. Und dass der Haussegen schief hängt, darf publik werden.

Solche Obstruktionspolitik à la Charles de Gaulle funktioniert – teilweise. Macrons Interventionen empören, aber sie zwingen die EU zu einer Reform des Beitrittsprozesses. Mit Schützenhilfe Donald Trumps, der mit Handelszöllen Europa erpresst, und auch wegen des immer aggressiver werdenden Auftretens Chinas nimmt die Debatte über Macrons Konzept der «strategischen Souveränität» Europas 2019 endlich Fahrt auf.

Die «Nervensäge-Strategie» hat den Vorteil, den Partnern eine Debatte zu Macrons Plänen aufzunötigen. Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 schießt Macron aus allen Rohren gegen die Nationalisten in Budapest und Warschau. Disruption ist nötig, wenn sich Europapolitik weg vom üblichen Brüsseler Ausbalancieren nationaler Interessen und hin zu einer neuen Auseinandersetzung über Werte und Politikkonzepte verlagern soll. Macron schafft ein Stück weit jene «europäische Öffentlichkeit», die 2003 die Philosophen Jacques Derrida und Jürgen Habermas als Vorbedingung einer Vertiefung der EU beschworen.

Zunächst aber ist Macrons Strategie ein Stresstest für die «Kompromissmaschine EU». Denn Außendruck auf Deutschland bewirkt, dass Berlin zunächst die Schotten noch weiter dicht macht. 2019 antwortet Annegret Kramp-Karrenbauer, damals CDU-Chefin und mögliche Merkel-Nachfolgerin, in einem Text auf Macrons Sorbonne-Rede. Seine Ideen für mehr fiskalische Solidarität in der Eurozone seien «der falsche Weg». Gleichwohl solle Frankreich solidarisch seinen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an die EU abtreten und der Verlegung des Europaparlaments von Straßburg nach Brüssel zustimmen. Kramp-Karrenbauer will die Europa-Diskussion abwürgen, die Macron lanciert hat.

3. Breite Allianzen setzen Deutschland in Zugzwang

Der Durchbruch in der Europapolitik glückte Macron erst seit 2020. Er feierte eine Reihe von Erfolgen: gemeinsame EU-Schulden für den Corona-Pandemiefonds; schärfere rechtsstaatliche Kriterien für die Auszahlung von EU-Geldern; ehrgeizige EU-Klimaziele, und die CO2-Grenzsteuer. Bei diesen Vorhaben setzte sich Paris in den vergangenen zwei Jahren durch, obwohl Berlin anfangs immer kritisch war oder kaum Realisierungschancen sah.

Wie schaffte Macron das?

Einerseits zwangen äußere Umstände wie die Pandemie Berlin zum Umdenken – und zum Handeln. Die Covid-19-Seuche, die zu Beginn mit aller Wucht Italien ereilte, stellte das Überleben der Eurozone in Frage. 2018 noch hatte sich Berlin leisten können, die Idee eines Budgets der Eurozone zu beerdigen. Im Frühjahr 2020 aber stand Merkel vor der Wahl, den Italienern mit EU-Schulden unter die Arme greifen oder die Eurozone untergehen zu lassen. Und SPD-Finanzminister Olaf Scholz drängte die Kanzlerin dem EU Wiederaufbaufonds zuzustimmen.

Andererseits brachten die Wahlen zum Bundestag 2021, namentlich der Aufstieg der Grünen, einiges in Bewegung. Einzig während der Neuverhandlung des EU-Budgets alle sieben Jahre hat Brüssel ein Druckmittel gegenüber Polen und Ungarn, die Rechtstaatsregeln zu verschärfen. Und in der Tat, seit langem brandmarkten die Grünen Merkels Appeasement-Politik gegenüber Budapest. Beim Thema Klima herrschte ohnehin Notstand, und der Höhenflug der Grünen in Umfragen vor der Bundestagswahl bewog Union und SPD, sich einer mutigeren Umweltpolitik zu verschreiben.

Genauso wichtig für Macrons Erfolg war, dass er seine Deutschland-Strategie abermals anpasste und endlich eigene Wege ging. Die neue Methode: Frankreich schmiedet breite Allianzen für seine Vorschläge, die dann Berlin in Zugzwang setzen. Und: Macron lässt auch mal anderen Staats- und Regierungschefs den Vortritt, wenn es um das Fordern geht.

In der Pandemie drängte Paris früh auf eine gemeinsame europäische Antwort. Aber Madrid legte konkrete Vorschläge vor, und Rom rührte in deutschen Medien die Werbetrommel. Dahinter stand Macron, er hatte ein Bündnis von neun EU-Mitgliedern geschlossen. Neben den üblichen Verdächtigen — krisengeschüttelten Südländern wie etwa Portugal – holte er EU-Staaten mit geringem Schuldenstand wie Luxemburg und Slowenien ins Boot.

Beim Powerplay gegen Polen und Ungarn in Sachen Rechtstaatsmechanismus ließ Macron nordeuropäische Mitglieder und die Niederlande vorpreschen. Weitere EU-Transferzahlungen werde es nur geben, wenn sie an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien gekoppelt würden. Ein zuerst zögerliches Berlin begann zu vermitteln, Warschau und Budapest gaben klein bei.

2019 lancierte Paris mit der Europäischen Kommission das Ziel, den CO2-Ausstoß der EU bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu mindern. Berlin wollte sich nicht festlegen. Aber Macron paktierte mit acht EU-Ländern aus Ost und West, Nord und Süd. Wieder vermittelte Berlin, wieder knickte Warschau ein. 

Die Einführung einer EU-weiten CO2-Grenzsteuer schrieb sich vor allem Kopenhagen auf die Fahne. Deutschland unterstützte zwar formal die CO2-Grenzsteuer. Der Plan erfüllte den «Exportweltmeister» aber mit Sorge. Was, wenn andere Staaten dem Beispiel der EU folgen und ebenfalls solche Zölle erheben würden? Abermals zimmerte Paris eine disparate Koalition mit Österreich, Dänemark, Spanien, der Slowakei, den Niederlanden und Litauen, die Berlin unter Druck setzte. 

Paris war erfolgreich, weil es Europapolitik nach deutscher Art machte: bezogen auf spezifische aktuelle Themen anstelle des großen Wurfs. Besonders effizient war Macron, wenn er auf ein leading from behind setzte, wie das einst Kanzler Helmut Schmidt den deutschen Außenpolitikern empfahl: einen halben Schritt hinter den anderen zurückstehen, um sie diskret zu lenken.

Das half. Denn sobald Paris etwas fordert, ist Berlin versucht, dies als typisch französische Interessenspolitik abzutun. Verlangen aber die unverdächtigen Dänen etwas, muss man sich das erst einmal anhören, und die Deutschen geraten wie von selbst in die von ihnen geliebte Rolle des Vermittlers. In dieser Position lässt sich Berlin am ehesten dazu bringen, auf kurzatmige nationale Interessenspolitik zu verzichten und europäisch zu denken. Frankreich muss mit seinen Verbündeten Deutschland gleichsam «einkreisen», um dann auf dessen Vermittlerstärke und dessen intuitiven Sinn für Kompromisse zu setzen.  

Hält sich Frankreich zurück, statt mit pfannenfertigen Konzepten vorzupreschen, können am Ende des Prozesses Paris und Berlin Hand in Hand den abschließenden Kompromiss austarieren. Kurz: Der deutsch-französische Motor entfaltet am Start wenig Schubkraft, aber auf der Zielgeraden ist er unschlagbar. Die Einigung zwischen Berlin und Paris muss nicht am Anfang, sondern am Schluss eines europäischen Findungsprozesses stehen.

Und mit Scholz?

Viel spricht dafür, dass diese Strategie des Einkreisens mit deutsch-französischem «Finish» auch für die Bundesrepublik von Olaf Scholz funktionieren wird.

Richtig ist: Scholz hat mehr europapolitische Ambitionen als Merkel, und seine Denke passt besser zu der des Franzosen. Der Kanzler hat Macrons Narrativ eines «souveränen Europas» aufgegriffen. In einer Regierungserklärung vor dem EU-Gipfel von Ende Mai 2022 erklärte Scholz: «Zeitenwende bedeutet, dass man auch in Europa über den Tag hinausdenkt.» Aufgabe Deutschlands und Frankreichs sei es, «Lösungen für die Zukunft zu finden, die für alle Mitgliedsstaaten tragbar sind».

Wie Macron weiß Scholz, Krisen zu nutzen. Während der Pandemie war er in der Großen Koalition die treibende Kraft für einen EU-Wiederaufbaufonds. Unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion legte er das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zugunsten der Bundeswehr auf. Gefragt, was der größte Fehler in der Eurokrise gewesen sei, verwies er auf Adam Toozes Buch Crashed: Ähnlich wie die USA hätten die Europäer gleich zu Beginn die Banken rekapitalisieren müssen, schnell und massiv. Das hätte eine lange Entschuldungsstagnation verhindert. Hat Scholz ein Thema durchdacht und ist er sich seiner Sache sicher, scheut er sich wenig, eine Politik mit «Wumms» zu machen, wie er sein Pandemie-Fiskalpaket beschrieb. 

Zudem ist die Ampelkoalition dank der Grünen proaktiver aufgestellt als zuvor die Große Koalition mit den Christdemokraten. Nach 16 Jahren Merkel will die Ampel «mehr Fortschritt wagen», wie ihr Koalitionsvertrag verspricht. Die EU soll «weniger abhängig und verwundbar» werden in «strategischen Bereichen wie Energie, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie». Die Ampel wünscht sich eine «europäische Investitionsoffensive» für die Klimawende. 

Doch das Binnenleben der disparaten Ampelkoalition bleibt kompliziert. Die FDP hat in zwei Landtagswahlen die 5-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament nur knapp geschafft – weil sie für eine Sparpolitik eintrat, aber wegen des Ukrainekriegs, der Investitionen in den ökologischen Umbau der Wirtschaft und den Folgen der Pandemie nicht sparen kann. Die kleine FDP hat vor allem an die CDU verloren, die Beliebtheitswerte von Parteichef Christian Lindner sind im Sinkflug. Das beschränkt den Spielraum der Liberalen für europapolitische Kompromisse in der Fiskalpolitik. Und das Trauma von 2013 wirkt nach. Damals flog die FDP nach vier Jahren Koalition mit Angela Merkel aus dem Bundestag. Auch die SPD geht geschwächt aus Landtagswahlen hervor, während die Grünen massiv zulegen.

Zudem ist Scholz in der eigenen Partei nicht allmächtig. Die SPD hatte ihm 2020 in einer Urabstimmung den Vorsitz versagt. Viele neugewählte Abgeordnete sind am linken Rand der Sozialdemokratie angesiedelt. Scholz kann in der Innen-, Europa- und Ukrainepolitik nicht allzu oft vorpreschen: auch weil die SPD es in Sachen Kanzlertreue nie und nimmer mit der CDU aufnehmen kann. Willy Brandt, Helmut Schmidt und mittelbar auch Gerhard Schröder – bislang wurde jeder SPD-Kanzler von seinen Genossen aus dem Amt gestürzt. Ein Warnschuss war, als Scholz im April keine Mehrheit für sein Projekt einer Impfplicht fand.

Olaf Scholz wirkt zuweilen zögerlich und schwer lesbar. Aber der Kanzler muss taktieren: er darf sich nicht in die Karten schauen lassen – um dann wie Merkel auf den fahrenden Zug aufzuspringen oder aber im entscheidenden Moment eigenmächtig zu handeln und seine Partner vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Berlin lässt sich nicht ungern treiben

Eine europäische Grundsatzrede von Olaf Scholz als Antwort auf Emmanuel Macron ist also unwahrscheinlich. Wie die EU-Agenda vorangebracht werden soll, hat sich in Berlin ohnehin noch niemand genauer überlegt. Die Ampelkoalition ist seit dem ersten Tag im Modus des Krisenmanagements. Also ist man gar nicht so unfroh, sich von Macron «treiben zu lassen», wie in Berlin der eine oder andere Gesprächspartner gesteht. Der Mechanismus geht so: Macron schlägt vor, die Grünen nehmen einige Vorschläge auf, mal im Verbund mit der FDP, mal mit der SPD. Scholz thront über dem Ganzen.

Sowohl innerhalb der Koalition als auch in der EU hat Scholz am meisten Spielraum, wenn er in die Position des handelnden Vermittlers gerät. Es wäre darum ein Fehler, auf eine zweites Meseberg hinzuarbeiten. Stattdessen sollte Paris weitermachen, wo es aufgehört hat, das heißt nach wie vor auf die Strategie breiter Allianzen bauen, um Außendruck auf Berlin aufzusetzen.

Und Paris muss den Umstand nutzen, dass Berlin aufgrund des Ukrainekriegs in einigen Bereichen der Europapolitik selber zum Demandeur geworden ist. Merkel konnte oft einfach „Nein“ sagen, da es für sie keinen dringenden Handelsbedarf gab. Doch nun gibt es drei Problem zu dessen Behebung Berlin auf die Zusammenarbeit der Europäer angewiesen ist.

Einerseits ist da der Komplex Energiepreise, Inflation und Zusammenhalt der Eurozone. In der Bunderepublik ist die Inflation das große innenpolitische Brennpunkthema. Um diese in den Griff zu bekommen, muss die Europäische Zentralbank die Zinsen anheben. Das führt wiederum dazu, dass hochverschuldete Staaten wie Italien deutlich mehr für die Bedienung von Staatsanleihen zahlen müssen. Es droht ein Wiederaufflackern der Eurokrise. Die Straffung der Geldpolitik im Gegenzug für neue EU-Finanzierungsquellen für Investitionen in die Energiewende und eine stärkere Verteidigung sowie eine Unterstützung verschuldeter Staaten: Für einen solchen Deal gibt es in Berlin durchaus Offenheit.

Zumal Berlin auch in der Energiepolitik auf europäische Solidarität angewiesen ist. Dreht Moskau nach den Sommerferien total den Gashahn ab, muss sich Scholz darauf verlassen können, dass die anderen EU-Mitgliedsstaaten Deutschland mit Strom und Energie beliefern. Für die Bunderepublik wäre der Zusammenbruch des europäischen Energiemarktes eine Katastrophe.

Und Paris hat auch mit der Frage der EU-Erweiterung einen Hebel. Für Scholz ist es ein strategischer Imperativ, den sechs Westbalkanstaaten eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Hier fordert für Berlin und Paris ist zögerlich. 1994 forderten die CDU-Abgeordneten Wolfgang Schäuble und Karl Lamers die Schaffung eines Kerneuropa im Gegenzug für dessen Erweiterung. Doch Paris wollte damals nicht wirklich «mehr Europa». Lieber spät als nie: Heute sollte Macron auf den Schäuble-Lammers-Ansatz zurückkommen

Auf eine Änderung der bestehenden EU-Verträge, sollte Macron sich hingegen nicht versteifen. 

13 EU-Mitglieder haben in einem «Non-Paper» klargestellt, sie wollten keinen europäischen Verfassungskonvent. Scholz schließt zwar eine «langwierige Änderung der Verträge» nicht aus, fügt aber gleich hinzu: «Wenn wir eines nicht brauchen in dieser Zeit, dann ist es ein kontroverse, zeit- und energieraubende Nabelschau zu institutionellen Fragen.»

Es herrscht wenig Lust auf Vertragsänderungen, zumal sich wichtige institutionelle Neuerungen ohne Konvent beschließen ließen, denkt man in Berlin. In der Außenpolitik könnten Mehrheitsentscheidungen schon heute eingeführt werden, sofern die EU-Mitgliedsstaaten das einstimmig bejahen. Auch ein Initiativrecht des Parlaments ließe sich mit einer inter-institutionellen Vereinbarung verankern.

Vor allem: Damit Emmanuel Macron seine europäischen Koalitionen hinkriegt, muss er Außen- und Europapolitik gesamtheitlich denken: Isoliert er sich durch unnötige Alleingänge, etwa in der Russlandfrage, schadet er massiv der Durchsetzung französischer Interessen in Brüssel. Nicht nur Paris, auch Prag oder Warschau setzen auf Obstruktionspolitik und Retourkutschen in anderen Dossiers, wenn Paris ihre vitalen Interessen wenig beachtet.

Für Macron wäre es also von Vorteil, eine EU-Politik ähnlich wie am Ende seiner ersten Amtszeit fortzuführen, mit den drei Elementen:

  • immer an vorderster Stelle stehen, wenn es um zukunftsgewandte Narrative geht;
  • aber gleichzeitig handfest an themenbezogenen Koalitionen mit verschiedensten EU-Partnern arbeiten – mehr Tagesgeschäft als große Würfe;
  • und auf Berlin für das «Closing» von Reformen setzen, jedoch nicht für ihre Lancierung.

Mit einer solchen Strategie könnte Macrons Frankreich, erstmals wieder seit François Mitterrand, zur prägenden Kraft Europas avancieren. Dies auch, weil für Berlin der europäische Status quo auch nicht mehr zufriedenstellend ist. Zur Bewältigung der Inflations- und Energiekrise müssen Deutschland und Europa neue Wege gehen.

Und es ist ein Ironie der Geschichte, dass Macron auch in Frankreich nun eher wie ein «Kanzler» agieren muss: verhandeln, diskret lenken, Parteifreunde und potentielle Verbündete pflegen und glänzen lassen. Wie in der EU-Politik muss es zu Hause heißen: Der Präsident steht etwas zurück, lässt andere stärker zur Geltung kommen. Dieser Politiker des Digitalen steht vor der Aufgabe, in Netzwerken zu denken. Nur so erreicht er jetzt mehr für Frankreich – und für Europa.