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Am 26. September 2021 findet die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. In diesem Rahmen haben wir uns an die Vorsitzenden der politischen Stiftungen in Deutschland gewandt, von denen drei sich bereit erklärten, unsere Fragen zu den europapolitischen Auswirkungen der Bundestagswahl zu beantworten. Nachfolgend finden Sie also die Perspektiven von Prof. Dr. Norbert Lammert, dem Vorsitzenden der CDU-nahen Konrad-Adenauer Stiftung, Martin Schulz, dem Vorsitzenden der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung sowie von Dr. Ellen Ueberschär, der Co-Vorsitzenden der Heinrich-Böll-Stiftung, der parteinahen Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen1.

Wie stellen Sie sich die EU im Jahr 2030 vor? Wo sehen Sie den größten Reformbedarf? Welche Vertragsänderungen schlagen Sie vor? 

Prof. Dr. Norbert Lammert ist Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und Mitglied der CDU. Der promovierte Sozialwissenschaftler war von 1980 bis 2017 Mitglied des Bundestages, dem er ab 2005 vorsitzt. Bild: KAS

Norbert Lammert (KAS / CDU)

Mit Zukunftsprognosen tue ich mir grundsätzlich schwer — niemand kann verlässlich vorhersagen, was morgen passiert — schon gar nicht in einer Europäischen Union, in der jede substantielle Veränderung von der einmütigen Zustimmung aller Mitgliedsstaaten abhängt. Gleichzeitig gilt es natürlich, sich auf absehbare Herausforderungen zumindest einzustellen und zu überlegen, wie man diese mit Blick auf die eigenen Fähigkeiten und die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten meistern kann. 

Die EU vereint nach wie vor eine beachtliche wirtschaftliche Macht; unsere liberalen, demokratischen Gesellschaften strahlen in weiten Teilen der Welt immer noch eine starke Attraktivität aus. Aber unser gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Modell hat Konkurrenz bekommen. Allen voran China geriert sich als vermeintlicher Beleg dafür, dass wirtschaftlicher Wohlstand und Demokratie nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen müssen.

Diese internationale Konkurrenzsituation wird uns in den 2020er Jahren beschäftigen und die EU muss sich dabei behaupten. Angesichts tiefgreifender globaler Herausforderungen muss sie ihre Gestaltungsfähigkeit nach außen und zugleich ihren Nutzen nach innen beweisen. Deshalb müssen vor allem die gewählten Repräsentanten ihren Bürgerinnen und Bürgern immer wieder verdeutlichen, warum die EU im 21. Jahrhundert gebraucht wird. Das ist weniger banal, als es auf den ersten Blick scheint. Denn wir haben es schon seit geraumer Zeit mit dem bemerkenswerten Paradoxon zu tun, dass viele Menschen den Glauben an den Wert der konstruktiven internationalen Zusammenarbeit verloren zu haben scheinen, obgleich wir vor globalen Herausforderungen nicht nur im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und ihren Folgen, sondern auch im Hinblick auf den Klimawandel, die Digitalisierung und vielen anderen Entwicklungen stehen, die eines gemeinsam haben: Sie machen vor nationalen Grenzen nicht Halt und kein Nationalstaat kann sie erfolgversprechend im Alleingang bewältigen. Vor diesem Hintergrund sollte eigentlich die EU als besonders geeignete Form der Problemlösung aufblühen. Tatsächlich geht die Bereitschaft zu gemeinsamen Lösungen überall in Europa eher zurück – ausgerechnet in einer Zeit, in der deren Notwendigkeit objektiv gewachsen ist. 

[W]ir haben es schon seit geraumer Zeit mit dem bemerkenswerten Paradoxon zu tun, dass viele Menschen den Glauben an den Wert der konstruktiven internationalen Zusammenarbeit verloren zu haben scheinen, obgleich wir vor globalen Herausforderungen stehen.

Norbert Lammert

Darauf müssen sich die Reformbemühungen der EU ausrichten — es muss ihr gelingen, auf die wichtigen Fragen unserer Zeit gemeinsame europäische Antworten zu geben. Das geht vielleicht leichter mit der Konzentration auf einige besonders zentrale Fragestellungen. 

Ein wichtiger Aspekt muss dabei die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik sein. Um die Handlungsfähigkeit der EU in diesem Politikbereich zu verbessern, sollte sie bis 2030 gemeinsame europäische Streitkräfte im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) aufbauen, Europol ausbauen sowie geheimdienstliche Zusammenarbeit und die gemeinsame Cyberabwehr vertiefen – um nur einige Vorhaben anzusprechen.

Martin Schulz ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung und Mitglied der SPD. Von 1994 bis 2017 war er Mitglied des Europäischen Parlamentes, dessen Präsident er ab 2012 war. Seit 2017 ist er Mitglied des deutschen Bundestages. Bild: Inga Haar

Martin Schulz (FES / SPD)

In der Corona-Pandemie erwies sich die EU, nach anfänglichen Schwierigkeiten, als durchaus handlungsfähig, denn sie hat aus ihren Fehlern in der Finanzkrise gelernt. Gleichzeitig wurden aber auch die grundsätzlichen strukturellen und politischen Defizite der Union und der dringende strukturelle Reformbedarf sehr deutlich. Reformen müssen unter viel stärkerer Beteiligung der europäischen Bürger:innen angegangen werden. Bis 2030 muss die EU souverän, handlungsfähig und als internationaler Akteur respektiert sein. 

Bis 2030 muss die EU souverän, handlungsfähig und als internationaler Akteur respektiert sein. 

Martin Schulz

Um den Euroraum weiter zu stabilisieren sollte die Währungsunion vertieft und durch eine politische Basis untermauert werden. Die als Antwort auf die Corona- Pandemie getroffenen Entscheidungen zum Instrument zur Unterstützung der Kurzarbeit (SURE), der gemeinsame Schuldenaufnahme, der Möglichkeit Eigenmittel einzuwerben sowie zur Aussetzung des Austeritäts- und Wachstumspakts sind wichtige Schritte hin zu mehr Souveränität und vor allem Solidarität in der EU. Es braucht aber noch mehr Reformen und die kommende neue Bundesregierung muss diese vom ersten Tag an verfolgen, da sie im ureigenen Interesse Deutschlands liegen. Der Weg zu einer Fiskalunion, wie ihn der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Olaf Scholz fordert, ist daher richtig.

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine wichtige Initiative und ein Versprechen an die Bürger_innen. Damit soll schwindendes Vertrauen in das erfolgreiche Friedensprojekt Europa bei den Bürger_innen zurückgewonnen werden. Der verspätete Start, nicht allein aufgrund der Pandemie, sondern auch aufgrund der Uneinigkeit von Parlament, Kommission und Rat hinsichtlich der Prozesse und Personen, war kein guter Anfang. Das muss sich nun im Laufe der Konferenz dringend ändern und die Vorschläge und Ideen aus den Bürgerforen müssen ernsthaft diskutiert werden. Mögliche Vertragsänderungen dürfen dabei unter Wahrung der europäischen Werte Frieden, Freiheit, Solidarität, Demokratie und Menschenrechte nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Der Prozess sollte auch nicht mit der französischen Ratspräsidentschaft enden, denn die EU ist und bleibt work in progress.  

Weitere Integrationsschritte und eine stärkere Kooperation auf politischer, fiskalischer und wirtschaftlicher Ebene, aber auch im Bereich Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden notwendig sein, um den globalen Herausforderungen für Europa begegnen zu können. Ein souveränes Europa braucht im Kern eine starke EU. Langfristig wird dieser permanente Integrations- und Reformprozess auf eine Art europäischen Bundesstaat hinauslaufen. Dabei wird sich das Verhältnis zwischen Nationalstaaten und EU in einem solchen Verbund im Laufe des Prozesses herausbilden. Die nationale und die europäische Souveränität müssen sich dabei sinnvoll ergänzen, denn nur so können wir die großen Herausforderungen im Bereich Klima, Digitalisierung  und umfassende Sicherheit nicht meistern.

Dr. Ellen Ueberschär ist eine der zwei Vorstände der Heinrich-Böll-Stiftung. Die promovierte Theologin war Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 2006 bis 2017. Bild: Bettina Keller

Ellen Ueberschär (HBS)

Die Europäische Union wird im Jahr 2030 gestärkt aus den Krisen der 2020er Jahre hervorgehen. Aus der Konferenz zur Zukunft der EU ist sie mit neuen Impulsen hervorgegangen. Sie manifestiert sich als föderale Union, die die demokratischen und sozialen Rechte ihrer Bürger:innen stärkt und garantiert, und sowohl nach innen wie global in aller Konsequenz für Rechtsstaatlichkeit und eine pluralistische Demokratie einsteht — mithin eine Kernidee und  zentrales Gründungsmotiv der Union. Die innere Verfasstheit der Union im Jahr 2030 wird die EU wieder attraktiv für die Europäische Nachbarschaft machen, die europäische Integration ist mit der EU-Erweiterung und Vertiefung weiter fortgeschritten. Das Vereinigte Königreich hat zu diesem Zeitpunkt bereits einen erneuten Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt. Nicht zuletzt dank der europäischen Medienplattform und dem konsequent umgesetzten europäischen Vereinsrecht ist die EU 2030 europaweit zivilgesellschaftlich fest vernetzt.   

Die 20er Jahre werden wegweisend für die Europäische Union sein in der Frage, ob sie sich für die Zukunft als resilient und handlungsfähig behaupten kann. Dafür ist es zentral, auf die multiplen Krisen unserer Zeit eine große, zusammenhängende Antwort zu formulieren: Ein kommunal, national und europäisch konsequent ausgestalteter und umfassender European Green Deal kann die anstehenden Transformationen strategisch klug aus einem Guss gestalten, soziale Absicherung, ökologische, wirtschaftliche Erneuerung und digitale Modernisierung miteinander verknüpfen, die europäische Nachbarschaft mit spezifischen Angeboten einbeziehen und die EU als eigenständig handelnde Akteurin auf globaler Ebene wieder wirksam machen. Diese Erwartungen teilten auch die deutschen Bürger:innen in der im Juni 2021 publizierten Studie der Heinrich-Böll-Stiftung „Selbstverständlich Europäisch“, in der zwei Drittel der Befragten eine aktive und kooperative Rolle von der EU erwarteten.

Für mehr Resilienz, Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit hat die EU bereits viele Instrumente zur Hand. Allen voran steht hier die Ausweitung der Mehrheitsregel, die bereits in der Überleitungsklausel in den Europäischen Verträgen verankert ist.

Ellen Ueberschär

Für mehr Resilienz, Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit hat die EU bereits viele Instrumente zur Hand, die sie (ohne Vertragsänderung) nutzen kann. Allen voran steht hier die Ausweitung der Mehrheitsregel, die bereits in der Überleitungsklausel in den Europäischen Verträgen (Art. 48, Absatz 7, EUV) verankert ist — sie würde politische Blockaden überwinden, der EU Entscheidungsfähigkeit verleihen und müsste zugleich als Voraussetzung die Einbeziehung des Europäischen Parlaments stärken. Darüber hinaus bietet der 2020 verabschiedete Rechtsstaatsmechanismus die Möglichkeit, über ein europäisches Budget unter stärkerer parlamentarischer Kontrolle demokratische und rechtsstaatliche Standards konsequent einzufordern. Diesen Mechanismus zu nutzen und wirksam einzusetzen, könnte wegweisend für die zukünftige Zusammenarbeit mit einigen osteuropäischen Mitgliedsstaaten sein.  

Resilienz bedeutet auch, einen mutigen Schritt in Richtung einer politischen Union in Sachen Fiskal- und Sozialpolitik zu gehen. Bei einer Eurobarometer-Umfrage 2021 geben 9 von 10 Europäer:innen an, dass ihnen das soziale Europa persönlich wichtig ist. Auch die Studie „Selbstverständlich Europäisch“ zeigt auf, dass die Bürger:innen eine große Priorität auf soziale Absicherung in der EU legen – eine Einschätzung, die durch die zunehmende soziale Ungleichheit und wachsende Arbeitslosigkeit seit der Pandemie noch verstärkt wird.  

Eine Fiskalunion würde der EU die Möglichkeit einer wirtschaftlich-finanziell abgestimmten Politik geben. Die Covid-19-Pandemie hat verdeutlicht, dass Austeritätsideologie als eiserne Spar-Politik nicht funktioniert, wenn es — grenzüberschreitend — in Momenten der Krise existenziell auf resiliente soziale und ökologische Infrastrukturen sowie Gesundheitssysteme ankommt. Eine Wirtschafts- und Fiskalunion muss gleichzeitig mit der Stärkung eines sozialen Europas einhergehen — etwa der Stärkung sozialer Rechte durch gemeinsame europäische Arbeits- und Sozialstandards, einer europäischen Richtlinie für Grundsicherung und aufeinander abgestimmte Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedsstaaten.

Auf welche Partnerschaften (im Europäischen Rat bzw. in den europäischen Parteifamilien) sollte die nächste Bundesregierung setzen, um diese europapolitische Vision zu verwirklichen? 

Norbert Lammert (KAS / CDU)

Deutschland muss und wird den Dialog mit allen europäischen Partnern suchen. Von besonderer Bedeutung sind die beiden großen Nachbarländer Frankreich und Polen. Je nach Sachfrage wird es mit den einen oder anderen Mitgliedsstaaten oder auch zwischen den europäischen Parteifamilien wechselnde inhaltliche Übereinstimmungen geben. Wichtig ist, kompromissbereit zu bleiben. Das ist ein zentraler Wesenszug der Demokratie: Unter Ausgleich unterschiedlicher legitimer Interessen gilt es, Kompromisse zu finden und durchzusetzen. Auch wenn das im europäischen Rahmen mithin schwieriger, zumindest komplexer ist als auf nationalstaatlicher Ebene.

Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit gibt es immerhin eine Möglichkeit, im Rahmen der EU flexibel „Koalitionen der Willigen und Fähigen“ zu bilden.

Norbert Lammert

Doch mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) gibt es immerhin eine Möglichkeit, im Rahmen der EU flexibel „Koalitionen der Willigen und Fähigen“ zu bilden und innerhalb dieser noch enger zu kooperieren. Das ist ein durchaus intelligentes Instrument, das in Zukunft mehr Anwendung finden sollte. Nicht zuletzt Frankreichs Präsident Macron hat dies in einem Interview mit dieser Zeitschrift ganz ähnlich gefordert, als er „projekt- und akteursbezogene Koalitionen“ anregte. Das lässt sich im Rahmen der SSZ durchaus auch auf die EU anwenden.

Martin Schulz (FES / SPD)

Da sind zu allererst im Parlament die progressiven mitte-links Gruppierungen;  allen voran die Familie der Sozialisten und Sozialdemokraten, die das Integrations- und Reformprojekt EU in die richtige Richtung nämlich zu mehr aktiver solidarischer Verantwortung, sozial-ökologischem Ausgleich in der Innen- und Außenpolitik, und einer sozialen, politischen, wirtschaftlichen und fiskalischen Union, im Interesse der Bürger_innen vorantreibt. Aber auch die liberalen Zentristen der Renew Europe und die konservative EVP streben in vielen Bereichen Reformen und weiter vertiefende Integrationsschritte an; allerdings vor allem dort, wo es um den Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion, den Binnenmarkt und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik geht. Die Rechtspopulisten und -extremisten der ID und die Euroskeptiker in der EKR wollen stattdessen nicht nur eine weitere Integration verhindern, sondern zum Teil die EU zerstören. 

Die letzten Jahre der Regierung Merkel waren von europapolitischem Stillstand geprägt, was aus sozialdemokratischer Sicht politisch kurzsichtig und unsolidarisch ist. Dass die EU sich auf Basis der Deutsch-Französischen Initiative im Juli letzten Jahres, im Angesicht der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie, auf das Nothilfepaket und den umfassenden Wiederaufbaufond New Generation EU, und damit auf gemeinsame Schuldenaufnahme einigen konnten, ist in erster Linie den Bemühungen des sozialdemokratischen Finanzministers Olaf Scholz und seinem französischen Counterpart, Bruno Le Maire zu verdanken. Für den Reform- und Integrationsprozess der EU wäre die Wahl von Olaf Scholz zum nächsten Bundeskanzler daher eine echte Reformchance.

Kritisch ist für die EU auch der Ausgang der Wahlen in Frankreich. Sollte die rechte Bewegung Rassemblement National  gewinnen und Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin sein, wird das den europäischen Reform- und Integrationsprozess stoppen. Deshalb darf die künftige Deutsche Bundesregierung nicht erst die Wahlen in Frankreich abwarten, sondern sollte sofort flexible Allianzen bilden.

Martin Schulz

Kritisch ist für die EU auch der Ausgang der Wahlen in Frankreich. Sollte die rechte Bewegung Rassemblement National  gewinnen und Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin sein, wird das den europäischen Reform- und Integrationsprozess stoppen, vielleicht sogar umkehren oder gar zu einem Frexit führen. Deshalb darf die künftige Deutsche Bundesregierung nicht erst die Wahlen in Frankreich abwarten, sondern sollte sofort, je nach politischem Anliegen und der jeweiligen nationalen Interessenlage flexible Allianzen bilden, um so das europäische Projekt voranzutreiben. Das deutschfranzösische Zusammengehen wird von kleineren Ländern mit Skepsis gesehen. Um diesen „Hegemoneffekt“ zu vermeiden, sind unterschiedliche Allianzen mit den verschiedenen Mitgliedsländern, vor allem auch mit den kleineren, zu den unterschiedlichen Reformschritten besonders wichtig.

Ellen Ueberschär (HBS)

Politik für die kommenden Jahrzehnte zu gestalten bedeutet, sie in einem starken demokratischen Bündnis gemeinsam anzugehen. Große Transformationen brauchen einen breiten Rückhalt in der Gesellschaft und Politik, die die Veränderungen unterstützen, mitgestalten und umsetzen. Sie erfordern deshalb starke politische und zivilgesellschaftliche Allianzen auf allen Ebenen — von der kommunalen bis zur europäischen und der internationalen Ebene. Viele Akteur:innen in den politischen Institutionen sind mittlerweile aktive Förderer:innen und Träger:innen einer grünen, sozial-ökologischen Transformation. Im Grunde bedarf eine starke und handlungsfähige EU der Kompromissfähigkeit zwischen allen demokratischen Parteifamilien, die an der wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit der Union interessiert sind. Aber auch Aushandlungskonzessionen zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und den europäischen Institutionen sind gefragt.  

Auf politischer Ebene wird der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2022 wegweisend für die deutsch-französische Partnerschaft als Impulsgeber für die EU sein. Dass die Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin zentral für die Handlungsfähigkeit der EU ist, haben die vergangenen Jahre gezeigt — auch wenn hier nicht der einzige Hebel europäischer Fortschrittlichkeit zu finden ist.

In der Asyl- und Migrationspolitik ist es möglich, dass die EU kurz- bis mittelfristig auf eine Koalition der Willigen setzen muss, die sich für eine nachhaltige, menschenwürdige Asylpolitik einsetzt. Solange die EU beim Thema Asyl und Migration als Ganzes handlungsunfähig ist und Reformen aufgrund des notwendigen kleinsten Nenners bis ins Unkenntliche verwässert werden, müssen die „willigen“ Staaten über eine verstärkte Zusammenarbeit Verantwortung übernehmen. Zentral bleibt jedoch, die mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten sowie ihre Perspektiven einzubeziehen. 

Auf internationaler Ebene hat die Pandemie deutlich gemacht, dass die EU globale, demokratische Allianzen braucht, die auf Vertrauen und gemeinsamen Werten basieren, um globale Handlungsfähigkeit zu stärken — allen voran das transatlantische Verhältnis, das Vereinigte Königreich ebenso wie die internationalen Bündnisse Pariser Klimaabkommen, WHO, NATO, um nur einige zu nennen.  

Für die Stärkung des europäischen Projekts sollten diejenigen Menschen miteinbezogen werden, die die Veränderungen unmittelbar treffen wird — die Kommunen, die Zivilgesellschaft und lokalen Initiativen vor Ort.

Ellen Ueberschär

Für die Stärkung des europäischen Projekts sollten diejenigen Menschen miteinbezogen werden, die die Veränderungen unmittelbar treffen wird — die Kommunen, die Zivilgesellschaft und lokalen Initiativen vor Ort. Der Dialog unter zivilgesellschaftlichen Akteuren ebenso wie zwischen Zivilgesellschaft und Politik sollte transnational strukturell gestärkt werden, um die politische Beteiligung aller Bürger:innen zu ermöglichen. Letztlich ist es auch der Rückhalt in der Zivilgesellschaft, der die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als Erfolgsprojekt stärken und ihr den gesellschaftlichen Rückhalt in Zeiten der Krise verschaffen wird.  

Welche außenpolitischen Ansätze sollte die EU zukünftig mit Blick auf die USA, China und Russland vertreten?

Norbert Lammert (KAS / CDU) 

Die USA sind unser Verbündeter, China und Russland sind es nicht. Mit Russlands aggressiver Außenpolitik und Chinas rücksichtslosem Geltungsanspruch sieht sich das westliche Bündnis wieder mit strategischen Herausforderern konfrontiert; wir befinden uns längst in einem geopolitischen Wettbewerb. Eine Äquidistanz zu China oder Russland und den USA kann es dabei nicht geben. 

Russland greift in Wahlen ein — nicht nur in Europa — und betreibt eine militarisierte Machtpolitik an unseren Grenzen. Die Bürgerkriege in Syrien und Libyen sind nach wie vor ungelöste Krisen in direkter Nachbarschaft. China expandiert politisch und wirtschaftlich, investiert in europäische Infrastruktur und versucht, einen Keil zwischen die Mitgliedsstaaten der EU und die USA zu treiben. Europa muss gemeinsame Antworten auf diese und eine ganze Reihe von Herausforderungen der internationalen Politik finden, andernfalls werden wir nicht mehr gestaltender Akteur, sondern nur noch Austragungsort von internationaler Politik sein.

Zu einer realistischen Lagebeurteilung gehört zudem die schlichte, aber schwerwiegende Erkenntnis, dass sich Europa ohne die militärischen Fähigkeiten der USA auf absehbare Zeit selbst nicht wirkungsvoll schützen kann. Als Partner für die USA ist die EU umso attraktiver, je größer ihre eigenen Kapazitäten und Kompetenzen sind. 

Norbert Lammert

Zu einer realistischen Lagebeurteilung gehört zudem die schlichte, aber schwerwiegende Erkenntnis, dass sich Europa ohne die militärischen Fähigkeiten der USA auf absehbare Zeit selbst nicht wirkungsvoll schützen kann. Die transatlantische Partnerschaft ist deshalb von existenzieller Bedeutung für Europa. Als Partner für die USA ist die EU umso attraktiver, je größer ihre eigenen Kapazitäten und Kompetenzen sind. 

In enger Zusammenarbeit und Abstimmung mit Washington sollte die EU Instrumente und Wege entwickeln, mit China und Russland umzugehen, ohne aber die Tür für eine verlässliche Zusammenarbeit zuzuschlagen. Im jeweils eigenen und gemeinsamen Interesse müssen Europa und die USA in mehr Bereichen enger zusammenarbeiten und eine gemeinsame Haltung entwickeln: Vom Klimaschutz über die Achtung der Menschenrechte bis hin zum Datenschutz, der Digitalisierung und der Bekämpfung von Pandemien müssen wir uns absprechen, aufeinander Rücksicht nehmen und einvernehmliche Lösungen entwickeln. Nicht zuletzt die Wiederaufnahme der TTIP-Verhandlungen und der überfällige Abschluss eines transatlantischen Handelsabkommens würden ein klares Signal darstellen. 

Zu einer stabilen Beziehung gehört Reziprozität. Militärisch können wir die Vereinigten Staaten zwar mittel- und langfristig entlasten, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Europa muss sich deshalb auf seine Stärken konzentrieren und seine wirtschaftliche Macht in Form von Handelsabkommen und Entwicklungshilfe strategischer ausspielen, um Staaten in unserer Nachbarschaft an uns zu binden und nicht chinesischer Einflussnahme zu überlassen. 

Letztlich braucht die Welt weiterhin ein verlässliches und handlungsfähiges westliches Bündnis, um Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu gewährleisten. Dabei sind die amerikanischen und europäischen Interessen nicht immer gleich, aber unsere politischen Kulturen kongruent und die gemeinsame Wertebasis solide.

Martin Schulz (FES / SPD)

Die derzeitigen Regierungen in Moskau, Ankara und Peking nehmen die zwischenstaatlichen und auch multilateralen Beziehungen durch das Prisma von Machthierarchien, Verwundbarkeiten und Abhängigkeiten wahr. Dies galt bis zur Abwahl Trumps auch für die USA. Daraus folgt ein immer stärker und unverhohlener werdendes autokratisches politisches Handeln -nach innen und außen-, inklusive Menschenrechtsverletzungen, Attacken gegen das System der liberalen Demokratie, Handelskriege sowie Spaltungsversuche der EU. Hinzu kommen das Schüren von Konflikten in der jeweiligen Nachbarschaft, militärische Drohgebärden, Aufrüstung und im Falle der Türkei und Russland auch militärische Interventionen. Ziel ist die geostrategische Einflussnahme u.a. in der osteuropäischen Nachbarschaft, im Nahen Osten, Afrika und im Fall Chinas in  der Indo-Pazifikregion. In diesen Kontext gehört auch die zunehmend aggressive globale Handels- und Investitionspolitik, die zwischen China/USA zu einem Handelskrieg eskalieren könnte. Gleichzeitig ist China mit der Belt and Road Infrastruktur Initiative auch weit in das europäische Territorium vorgedrungen. Positiv in den EU/US- Beziehungen sind die Aussetzung der Strafzölle für Aluminium und Stahl, die konstruktive Haltung der USA und die Entwicklungen im Subventionsstreit zwischen Airbus und Boeing zu bewerten. 

Einheit und Solidarität innerhalb der EU sind bei den wachsenden Großmachtkonflikten, den multiplen Attacken aus Richtung Russlands und zur Verteidigung der eigenen Werte und Interessen essentiell. Um die Stärkung des Multilateralismus, nun wieder gemeinsam mit den USA, voranzutreiben muss die EU bei Handel, Klima, Energie, Technik und Digitalisierung aber auch klassischer und erweiterter Sicherheit eine souveräne, von den eigenen Werten und Interessen geleitete Politik verfolgen und geschlossen auftreten. Die EU sollte sich dabei für ihre Werte einsetzen, indem sie Staaten, die gegen diese Werte und internationale Regeln verstoßen, nachdrücklich auffordert, ihre völkerrechtlichen und multilateralen Verpflichtungen zu respektieren. Falls nötig, muss dies mit Hilfe von Sanktionen oder ähnlichen Maßnahmen untermauert werden.

Der Außenbeauftrage der EU, Josep Borrell, hat in der aktuellen Russlandstrategie den Ansatz des Zurückdrängens, Eindämmens und Eingreifens gefordert. Zu den fünf bestehenden Prinzipien im Umgang mit Russland, welche die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zur Ukraine, engere Beziehungen zu Russlands Nachbarn, die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber russischen Bedrohungen, ein „selektives Engagement“ mit Russland bei bestimmten Themen wie der Terrorismusbekämpfung, und die Unterstützung von Kontakten zwischen den Menschen beider Seiten umfassen, sollen drei neue Prinzipien hinzukommen: Widerstand gegen Rechtsbrüche, die Begrenzung der Möglichkeiten zur Schwächung der Union und das Angebot zur Zusammenarbeit in den Bereichen, in denen dies möglich ist. 

Im Verhältnis zu China gilt für die EU der Dreisatz von Kooperation, Wettbewerb und Systemische Rivalität. Zurzeit werden in Brüssel die Asien Connectivity Strategie, das EU- China Investitionsabkommen und eine EU-Indo-Pazifik Strategie diskutiert. Hier aber vor allem auch in Fragen der Menschenrechtsverletzungen und des Klimaschutzes sind eine Abstimmung und ein gemeinsames Vorgehen mit der USA wichtig. Konsequenz und ein klarer gemeinsamer Auftritt sind zentral, wenn die Kooperation mit den USA auf Augenhöhe stattfinden soll. 

Um Europa außenpolitisch handlungsfähig (weltpolitikfähig) zu machen, müssen die EU-Mitgliedstaaten bereit sein, ihre nationalen Interessen in die europäischen Interessen einzuordnen. Dazu gehört es, konsequenterweise vom Einstimmigkeitsprinzip abzugehen.

Martin Schulz

Um Europa außenpolitisch handlungsfähig (weltpolitikfähig) zu machen, müssen die EU-Mitgliedstaaten bereit sein, ihre nationalen Interessen in die europäischen Interessen einzuordnen. Dazu gehört es, konsequenterweise vom Einstimmigkeitsprinzip abzugehen. In verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen muss sie auch in Zukunft enger mit der NATO zusammenarbeiten  und sich mit den transatlantischen Partnern für eine wertebasierte, sozial ausgeglichene und nachhaltige internationale Handels-, Klima und Entwicklungspolitik einsetzen. Das gemeinsame Kommuniqué zum Abschluss des NATO und des jüngsten EU/USA Gipfels bestätigt dies.

Ellen Ueberschär (HBS)

Seit der Wahl von Joe Biden und Kamala Harris stehen die europäisch-transatlantischen Beziehungen vor einer Neugestaltung der historischen Partnerschaft. Inmitten einer globalen Pandemie, Wirtschaftskrise und der anhaltenden Präsenz revisionistisch orientierter Autokraten wird klar, dass mutige Antworten starke, internationale Bündnisse brauchen. Nun gilt es, die Erwartungen nach einer starken Partnerschaft auch auf Seiten der Europäischen Union, besonders in Sachen Klimaschutz, Demokratie und Stärkung der Zivilgesellschaft, mit Leben zu füllen. 

Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, bedarf es auf politischer Ebene einer transatlantischen Klimaallianz unter demokratischen Verbündeten, die gemeinsame, ökologische, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen schafft und neue Standards, etwa im Bereich der grünen Technologien, setzt. Mit der Ernennung von John Kerry als Klimasondergesandten sind die USA hier einen ersten wichtigen Schritt, auch in Richtung EU, gegangen.

Auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene bietet eine erneute europäisch-transatlantische Partnerschaft viele Möglichkeiten der Kooperation, besonders in Bereichen, in welchen zivilgesellschaftliche Akteure bereits transatlantisch vernetzt sind: im Bereich Klimagerechtigkeit, Geschlechterdemokratie und Antirassismus.

Ellen Ueberschär

Auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene bietet eine erneute europäisch-transatlantische Partnerschaft viele Möglichkeiten der Kooperation, besonders in Bereichen, in welchen zivilgesellschaftliche Akteure bereits transatlantisch vernetzt sind: im Bereich Klimagerechtigkeit, Geschlechterdemokratie und Antirassismus. Diese Chancen müssen genutzt werden, indem die internationale Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft und der kommunalen Akteure gestärkt wird.  

Darüber hinaus muss die Europäische Union klare Antworten auf autokratische Regime finden. Ein positives Beispiel, wie gemeinsam und klar agiert werden kann, stellt die zwischen der EU, USA, Großbritannien und Kanada abgestimmte Sanktionsliste gegenüber Belarus dar. Im Sinne einer werteorientierten Außenpolitik muss klar sein, dass Dialog Priorität bleiben muss, solange rote Linien nicht überschritten werden. Außenpolitik muss sich in Zukunft nicht nur an Werten wie menschenrechtlichen Standards und an Interessen ausrichten, sondern auch an ökologischen Standards. Werteorientierte Außenpolitik im demokratischen Bündnis würde deshalb größere Unabhängigkeit gegenüber China und Russland mit Blick auf Handel und Infrastrukturen schaffen und klare Rahmenbedingungen für Kooperation setzen. Gleichzeitig müssen europäische Werte von der EU als globale Akteurin auch international gestärkt und verteidigt werden: etwa durch den Schutz von gefährdeten und verfolgten zivilgesellschaftlichen Partner:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen, der derzeit vielen oppositionellen Demokrat:innen in Russland und Belarus gewährt werden muss.

Welche Klimapolitik wünschen Sie sich für die EU? Welche Rolle sollte die EU als globale Akteurin in Klimafragen spielen?

Norbert Lammert (KAS / CDU)

In funktionierenden Demokratien wird das umgesetzt, wofür man Mehrheiten organisieren kann — und nicht zwangsläufig das, was Minderheiten für vorrangig halten. Davon abgesehen wird die Klimafrage zweifellos eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft sein. Die EU sollte deshalb in der internationalen Klimapolitik eine aktive Rolle beanspruchen und die im European Green Deal angestrebten Ziele einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie weiterverfolgen.  

Dabei muss sowohl die nationale wie die europäische Klimapolitik auch die vielfältigen legitimen Interessen unterschiedlicher Teile der Gesellschaft berücksichtigten. Nur wenn es gelingt, Treibhausgasemissionen nachhaltig zu verringern und gleichzeitig die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen, wird europäische Klimapolitik in der Union durchgesetzt und weltweit zum Vorbild werden können. Eine nachhaltige Wachstumsstrategie muss daher auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen und im Zweifelsfall mit Anreizen als mit Verboten arbeiten sowie Innovationen und Wettbewerb fördern. Mit anderen Worten: Europäische Klimapolitik, Innovationsförderung und Soziale Marktwirtschaft sollten auch künftig eng miteinander verknüpft werden.

Martin Schulz (FES / SPD)

Mit der Verabschiedung des European Green Deal und dem ambitionierten  CO2-Emissionsziel von 55% Minderung bis 2030 und dem Ziel der Emissionsneutralität bis 2050 ist die Union globaler Vorreiter in der Klimapolitik. Jetzt muss die Umsetzung in sämtlichen EU-Politikbereichen und auf allen Ebenen der Union und vor allem im Zusammenhang mit dem 750 Milliarden Euro Wideraufbaupaket erfolgen. Zentrale Leitlinie für die Sozialdemokratie beim Klimaschutz ist, dass dieser sozial gerecht umgesetzt wird. Dass dies in ganz Europa gelingt, ist die große Herausforderung. Um den Kontinent zukunftsfest zu machen, müssen wirtschaftliche Dynamik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung zusammengebracht werden. Der ökologische Wandel darf nicht zu Lasten sozial Schwächerer gehen. Er muss abgefedert werden für jene, die ihn sich nicht leisten können. Wer etwa im Kohlebergbau gearbeitet hat, muss Aus- und Weiterbildungen finanziert bekommen, statt in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden. Dazu wurde der „Just Transition Fund“ auf EU-Ebene eingerichtet in Höhe von 7,5 Milliarden Euro. Der ökologische Umbau der Wirtschaft wird Arbeitsplätze kosten, er wird aber auch viele neue Arbeitsplätze schaffen und einen Wettbewerb um Wissen und umweltfreundliche Technologien einleiten. Wenn wir den Umbau mit sozial gerechten Maßnahmen begleiten werden wir die Mehrheit der europäischen Bevölkerung an dem Weg hin zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell innerhalb der nächsten 30 Jahre mitnehmen können. Die EU kann hier gleichzeitig weltweit Standards setzen und zeigen, dass der nachhaltige und erfolgreiche Umbau einer der größten Wirtschaftsräume sozial verträglich umsetzbar ist.

Ellen Ueberschär (HBS)

Die Klimakrise erfordert nicht nur von der EU, sondern weltweit schnelles und auf grundlegende strukturelle Transformation orientiertes Handeln der Politik, um Klimaneutralität und das 1,5°-Ziel noch zu erreichen. Der European Green Deal der Europäischen Kommission bedeutet einen wichtigen Vorstoß in Richtung Klimaneutralität bis 2050. Erst im April 2021 hat das Bundesverfassungsgericht das deutsche Klimaschutzgesetz für rechtswidrig erklärt, weil es in Teilen nicht mit den Grundrechten vereinbar sei und die Gefahren des Klimawandels auf die jüngere Generation verschieben würde — eine wegweisende Entscheidung für die Klimageneration auch auf europäischer Ebene.  

Die EU muss jetzt ambitioniert vorangehen und ihrer eigenen Ziele konsequent umsetzen. In erster Linie gehört dazu, die ökologische Erneuerung, digitale Transformation und den ökologisch-sozialen Umbau der Wirtschaft gemeinsam zu denken. Das Wiederaufbauprogramm Next Generation EU etwa könnte wegweisend für die ökologische Erneuerung sein, wenn die Investitionen konsequent an ökologisch-sozialen Kriterien ausgerichtet werden.  

Darüber hinaus ist es zentral, europäische Lösungen für eine Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende zu finden, denn: noch heute macht der Mobilitätssektor 30% der CO2-Emissionen in der EU aus. Der Europäische Mobilitätsatlas der Heinrich-Böll-Stiftung verdeutlicht die Chancen einer nachhaltigen ökologischen Infrastruktur, etwa in Form eines Nachtzugnetzes, in Europa

Ellen Ueberschär

Darüber hinaus ist es zentral, europäische Lösungen für eine Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende zu finden, denn: noch heute macht der Mobilitätssektor 30% der CO2-Emissionen in der EU aus. Der Europäische Mobilitätsatlas der Heinrich-Böll-Stiftung verdeutlicht die Chancen einer nachhaltigen ökologischen Infrastruktur, etwa in Form eines Nachtzugnetzes, in Europa.  Auch grüner Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien wird hier eine Rolle für den Umbau der Großindustrien spielen müssen. Nicht zuletzt muss die EU es schaffen, Politikbereiche konsequent ökologisch und gemeinsam zu denken – dies erfordert auch eine grundlegende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU.

Wenn die EU ihre Politik klimaklug und nachhaltig ausgestaltet, kann sie auch global eine Vorreiterinnenrolle einnehmen: Sie könnte im Rahmen der transatlantischen Partnerschaft eine klimaneutrale transatlantische Zone schaffen, die neue Standards setzt — etwa durch eine gemeinsame CO2-Besteuerung, abgestimmte Handelskriterien sowie der Förderung von neuen und grünen Technologien für den Klimaschutz.  

Demokratische Verbündete könnten in Sachen Klimaschutz viel voneinander lernen, wie sich die Energiewende in Städten, landwirtschaftliche Reformen in ländlichen Regionen, Smart Cities oder ein europäisches Zugnetz umsetzen lässt, wenn sie die Foren etablieren, die es für eine engen Austausch braucht. Hier könnte die Wiederbelebung des US-EU-Energierats, eine Clean Energy Bank ebenso wie eine gemeinsame Abstimmung der demokratischen Verbündeten bei den UN-Klimakonferenzen Meilensteine der internationalen Zusammenarbeit sein.

Welche europäischen Perspektiven braucht es für die nächste Generation von EuropäerInnen, insb. mit Blick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie?

Norbert Lammert (KAS / CDU)

Die Corona-Pandemie hält uns den Spiegel vor. Sie hat bestehende, im Untergrund schwelende Probleme in den europäischen Gesellschaften und in der EU schonungslos in den Fokus gerückt: Strategische Abhängigkeiten, die Krise des Multilateralismus, die angesichts nationaler Alleingänge auch vor der EU nicht Halt gemacht hat, behäbige Entscheidungsfindungsprozesse — um nur einige Punkte zu nennen — haben dazu geführt, dass die EU in der Pandemie nicht immer die beste Figur abgegeben hat. Die Lehren sind vielfältig und sicherlich ist es noch zu früh, um abschließende Schlussfolgerungen zu formulieren.

Dadurch, dass die europäischen Staaten sich dazu entschieden haben, ihre Souveränität zu teilen und gemeinsam wahrzunehmen, haben sie sich den Rest der Möglichkeit erhalten, auf die eigenen Angelegenheiten einen prägenden Einfluss nehmen zu können

Norbert Lammert

Aber eines sollte — auch mit Blick auf die nächste Generation europäischer Bürgerinnen und Bürger — klar sein: Bei all ihren Unzulänglichkeiten in zähen Abstimmungsverfahren ist die EU ein ehrgeiziger und komplizierter, aber hochintelligenter Versuch, eine tragfähige Antwort auf den Verlust von Souveränität in Zeiten der Globalisierung zu finden – oder anders formuliert: Dadurch, dass die europäischen Staaten sich dazu entschieden haben, ihre Souveränität zu teilen und gemeinsam wahrzunehmen, haben sie sich den Rest der Möglichkeit erhalten, auf die eigenen Angelegenheiten einen prägenden Einfluss nehmen zu können. Bei nüchterner Betrachtung ist das der EU in sehr viel mehr Aktionsfeldern gelungen, als eine ebenso erfolgsverwöhnte wie misstrauische Öffentlichkeit wahrzunehmen bereit ist.  

Dennoch müssen wir Kritik ernst nehmen, auch und gerade dann, wenn sie übertrieben erscheint oder unberechtigt ist. Gleichzeitig müssen wir solche Zusammenhänge verständlicher erläutern. In einer immer komplexer werdenden Welt müssen die Fragestellungen und die möglichen Antworten mehr als früher erklärt werden, um nachvollziehbar zu werden.  

Letztlich gilt es zu vermitteln, dass Europa bei allen Schwierigkeiten ein historisch beispielloses wie beispielhaftes Modell bleibt. Wir müssen den eigenen Bürgerinnen und Bürgern — auch um deren Sorgen zu begegnen — nicht nur erklären, wie die europäischen Institutionen funktionieren, sondern welche Perspektiven mittel- und langfristig für die Union zu erwarten sind. Das kann offenbar nicht mehr nur mit dem Verweis auf wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten begründet werden, sondern muss auch emotional erfahrbar werden. Europa ist nämlich auch und vielleicht vor allem eine Herzenssache.

Martin Schulz (FES / SPD)

Mit dem umfassenden Wiederaufbaufonds New Generation EU und der Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmens hat die EU mitten in der Pandemie eine extrem wichtige Entscheidung für den wirtschaftlichen Umbau hin zu einer krisenresilienten aber eben auch ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft in den Mitgliedsstaaten und in Europa getroffen. 37% der Mittel sollen für den nachhaltigen Umbau der Wirtschaften und Klimainvestitionen verwendet werden. 

Für die Sozialdemokratie ist wichtig, dass diese Mittel dafür eingesetzt werden, die vulnerablen Teile der Gesellschaft zu fördern: junge Menschen, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen. Diese wurden besonders hart von den Folgen der Pandemie getroffen. Investitionen in solidarische und funktionierende öffentliche Gesundheitssysteme, soziale Absicherung, Bildung, Forschung und nachhaltige Infrastruktur und damit in die Zukunft der nächsten Generation von Europäer_innen müssen an erster Stelle stehen. Eine europäische Arbeitslosenrückversicherung und ein Rahmen für gute Mindestlöhne in den EU-Ländern sind wichtige Projekte des Aktionsplans zur Umsetzung der Europäischen Säule der Sozialen Rechte. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen und ökologischen Transformation bleibt in dieser Hinsicht allerdings weiterhin viel zu tun, um die EU im Bereich Arbeit und Soziales zukunftssicher zu machen.  Auch hier gilt: der Mensch muss immer in der Mitte dieser Bemühungen stehen. 

Für die nächste Generation EU ist Inklusion bereits eine wesentlich größere Selbstverständlichkeit, genauso wie der Schutz der Umwelt und des Klimas.

Martin Schulz

Für die nächste Generation EU ist Inklusion bereits eine wesentlich größere Selbstverständlichkeit, genauso wie der Schutz der Umwelt und des Klimas. Die jungen Europäer_innen müssen jedoch spüren können, dass u.a. der Wiederaufbaufonds der EU tatsächlich dazu beiträgt die Nachhaltigkeits-, Klima- und Digitalziele zu erreichen. Der Fonds sollte einen positiven und sichtbaren Unterschied machen, um vor allen auch den jungen Bürgern zeigen, dass er eine gute Investition in ihre Zukunft ist und keine Subvention zur Deckung vergangener Fehler. 

In Umfragen wünschen sich viele EU-Bürger eine starke und souveräne EU, die über Handlungsmacht in globalen Fragen verfügt, ihre rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien verteidigt, ihre Außengrenzen kontrolliert und gleichzeitig legale Immigration im Rahmen einer menschenwürdige Migrations- und Asylpolitik ermöglicht. Eine EU die widerstandsfähige Lieferketten fördert, fairen Handel unterstützt und entschlossen gegen den Klimawandel vorgehen kann und im Falle weiterer Pandemien effektiv und schnell handelt. Ein Rückzug in den Protektionismus wie ihn eine Minderheit fordert, wäre nicht zukunftsfähig. Hingegen die Einbettung einer souveränen EU in die NATO in Fragen der Sicherheit und die Erneuerung der transatlantische Kooperation auf Augenhöhe und die gemeinsame Förderung und Einbindung in ein regelbasiertes internationales System sind Garanten für ein sicheres, stabiles und prosperierendes demokratisches und souveränes Europa.

Ellen Ueberschär (HBS)

Inmitten globaler Krisen, Wirtschafts-, Gesundheits-, Rechtsstaatlichkeits- oder Klimakrise, steht die Europäische Union vor der Verantwortung, eine Zukunft zu schaffen, in der die junge Generation ein selbstbestimmtes und lebenswertes Leben führen kann. Dass ihre Perspektiven bis heute nur unzureichend gehört und miteinbezogen werden, zeigen nicht nur die weltweiten Klimaproteste der Fridays For Future, sondern auch die Frauenbewegungen und Black Lives Matter Proteste von Deutschland über die EU bis in die USA. Die Bewegungen fordern gleichermaßen die Umsetzung demokratischer Versprechen — eine gleichberechtigte politische und gesellschaftliche Repräsentation der vielfältigen Gesellschaft, Teilhabechancen für alle, sowie eine Politik, die sich der Klimakrise ebenso wie der strukturellen Ungleichheiten ernsthaft annimmt.  

Die Europäische Union muss junge Menschen in den Blick nehmen und ihnen einen zentralen Platz am Verhandlungstisch ermöglichen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, von den Schulschließungen bis hin zur Impfstrategie haben gezeigt, dass die junge Generation nicht im Fokus der politischen Entscheider:innen steht.

Ellen Ueberschär

Deshalb muss die Europäische Union junge Menschen in den Blick nehmen und ihnen einen zentralen Platz am Verhandlungstisch ermöglichen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, von den Schulschließungen bis hin zur Impfstrategie haben gezeigt, dass die junge Generation nicht im Fokus der politischen Entscheider:innen steht. Die Pandemie hat die Lücken in den sozialen Infrastrukturen besonders in Schulen deutlich sichtbar gemacht. Umso wichtiger ist jetzt, Perspektiven zu ermöglichen, um die wachsenden sozialen Ungleichheiten anzugehen und allen eine gleichberechtigte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und Bildung zu ermöglichen.  

Dazu gehört, Teilhabechancen zu schaffen und die Repräsentation von jungen Menschen, von Frauen und Menschen of Colour auf zivilgesellschaftlicher Ebene, in der Politik und den Institutionen zu erhöhen. Ebenso wichtig ist die Stärkung und systematische Einbindung der jungen und zivilgesellschaftlichen Stimmen in politischen Entscheidungsprozessen — wie es beispielsweise im Bürger:innenrat Klima in Deutschland oder bei der Einbeziehung von Klima-Aktivist:innen in der politischen Ausgestaltung von Biden’s Klima-Agenda bereits der Fall ist. Letztlich muss es Ziel der Europäischen Union sein, ihre Politik von heute für die Generationen von morgen in einem demokratischen Prozess zukunftsfest zu machen.  

Fußnoten
  1. Unsere Gesprächspartner beantworteten die Fragen Ende Juni bzw. Anfang Juli 2021 Ereignisse wie die Hochwasserkatastrophe in West- und Mitteleuropa und die schweren Waldbrände in Südeuropa wurden daher nicht in die Antworten miteinbezogen. Für jede Frage werden die Beiträge alphabetisch nach Autor aufgeführt.