Europa beschützt uns. In einer brutalen Welt haben wir das das Privileg und das Glück in einem politischen Raum zu leben, dessen politische Grundwerte der Dialog, der Frieden und die Kraft des Rechtes sind und nicht das Recht des Stärksten gilt. Europa ist unersetzbar. Selbst seine Kritiker müssen einsehen, dass es in diesen dramatischen Zeiten die einzige Zuflucht ist. Europa ist ein fragiles Gebilde. Es genügt, dass einer der 27 Mitgliedstaaten sich quer stellt, um alles zu verkomplizieren, bis hin zur politischen Lähmung. Deswegen muss Europa reformiert und seinem historischen Auftrag sowie den Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger angepasst werden. Die EU muss vom knebelnden Vetorecht befreit werden, die ihre Ambitionen erstickt. Ihre soziale Dimension muss gestärkt werden. In Fragen der Energie, der Sicherheit und der Außenpolitik muss sie endlich mündig werden.
Die Bedrohung durch Putin ist der Leviathan, der uns zwingt, diesen Sprung nach vorne zu wagen und zu zeigen, dass wir, auch in einer Welt der Gewalt, gedeihen und durch die Macht unserer Werte als handlungstragende Akteure auftreten können. Es bleibt nur eine Aufgabe zu bewältigen: den Weg vollenden, den wir vor 65 Jahren begonnen haben. Zum ersten Mal können wird das tun, wir standen noch nie so kurz vor einer föderalen Wende. In Italien ist das Vertrauen in die Europäische Union seit dem 24. Februar auf den höchsten Wert seit zehn Jahren angestiegen. Und in ganz Europa haben die europäischen Bürger und Bürgerinnen entschieden, ihre Werte, die sie bedroht sehen, zu verteidigen. Millionen von Menschen sind auf die Straße gegangen. Sie haben verstanden, dass dies die Stunde der Einheit ist. Es gibt in der Tat einen Bündnis, ein Aufbegehren für das europäische Projekt.
In der ukrainischen Tragödie stehen sich zwei entgegengesetzte Blickweisen auf internationale Beziehungen gegenüber. Die EU will eine Macht der Werte sein: Sie vermittelt ihre Interessen und Werte nicht durch Gewalt, sondern durch Regeln, Frieden, Kultur, ihre einzigartige Lebensweise und ein einzigartiges Entwicklungsmodell. Auf der anderen Seite steht Putin, der der Macht des Gesetzes mit dem Gesetz der Macht begegnet und eine eindeutige Botschaft an die Welt sendet: es sei kein Platz für Alternativen zu seinem Modell. Eine Mischung aus neuer Machtpolitik und altem Imperialismus.
Putin hat seine Verachtung für das europäische Modell nie verborgen: Für ihn gehört die EU nicht zu den Großmächten. Er argumentiert durch die Linse des 20. Jahrhunderts und diesem Jahrhundert entleiht er seine frustrierten Ambitionen eines aufstrebenden russischen Gendarmen und Hegemons der Sicherheitsordnung des Alten Kontinents.
Das europäische Modell gegen Putin zu verteidigen, das heißt vor allem zu verstehen, dass die Macht der Werte nicht allein ein Traum von Idealisten oder Schöngeister ist. Das sind wir uns selbst denjenigen, die weiterhin hoffnungsvoll auf Europa blicken, schuldig. Den Ukrainern und Ukrainerinnen, die Widerstand leisten und für ihre Würde und Unabhängigkeit kämpfen, aber auch für die europäische Freiheit. Wir können sie nicht alleine lassen und es darf keine Äquidistanz geben.
Um eine Macht der Werte zu werden, die in der Lage ist den Frieden zu verteidigen, braucht die EU Instrumente, die den heutigen Herausforderungen gerecht werden und eine strategische Doktrin, die unseren Prinzipien Kraft gibt. Heute sind alle Bedingungen erfüllt, um den Prozess der europäischen Integration auf ein höheres Niveau zu heben. Aus dem Krieg und der Pandemie müssen “sieben Unionen” hervorgehen. Sieben zu verwirklichende Unionen, deren Wurzeln weit weit zurückliegen, die aber in dieser Krisenzeit wieder äußerst aktuell geworden sind.
1.
Erstens, eine Union in außenpolitischen Angelegenheiten. Die Reaktion war unverzüglich. In Antwort auf die Invasion der Ukraine hat die Union unverzüglich eine Tatkraft bewiesen, die sie in diesem Bereich noch nie gezeigt hat. In wenigen Stunden wurden Sanktionen mit nie dagewesener Intensität und Reichweite beschlossen. Ebenso nie dagewesen war eine derartige europäische Einheit: Einstimmigkeit hinsichtlich des Vorgehens aber auch der politischen Verurteilung. Dies ist eine beispiellose Haltung, revolutionär im Vergleich zur Vergangenheit, als unterschiedliche Interessen gegenüber Russland die EU-Länder spalteten. Die Sanktionen funktionieren, sie schmerzen, trotz aller Drohungen und Versuche, sie zu umgehen.
Beobachter sind sich darüber einig, dass das russische BIP 2022 einen schwindelerregenden Absturz erleben wird, nach jüngsten Vorhersagen bis zu 10 % oder gar 12 %. Die Sanktionen wirken, weil die internationale Gemeinschaft gemeinsam gehandelt hat, allen voran die Mitgliedsstaaten der EU und die transatlantischen Partner. Das Einfrieren der Reseren der russischen Zentralbank, ein Plan den Mario Draghi gemeinsam mit Janet Yellens entwickelt hat, war wirkungsvoll gerade weil er einen Großteil des weltweiten Finanzsystems betrifft.
Diese Erfahrungen muss die Union ausnutzen, wenn sie ihre Rolle und ihre Werte verteidigen will. Mit der gleichen Einstimmigkeit muss sie nun Maßnahmen ergreifen um unsere Wirtschaften zu schützen, indem sie Haushalte und Unternehmen für die Auswirkungen der Sanktionen kompensiert und soweit möglich von der Inflation abschirmt. Doch vor allem muss sie aufpassen, dass das geeinte und unverzügliche Agieren der letzten Monate zur Regel wird, statt Ausnahme zu bleiben.
2.
Zweitens, eine Union die sich auf unsere Nachbarn ausdehnt. Auch hier besteht es ein deutliches Bewusstsein für den Bedarf, ein politisches Signal an jene Länder zu senden, die der Union beitreten wollen. Für die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien ist die Zugehörigkeit zu Europa wortwörtlich eine Frage von Leben und Tod.
Wir dürfen die nach 1989 begangenen Fehler nicht wiederholen. Seinerzeit zwang man die Länder des ehemaligen Ostblocks 15 bis 18 Jahre auf einen Beitritt in die EU zu warten. Und dass trotz des fulminanten Eintritt Ostdeutschlands durch die Wiedervereinigung. Diese nicht enden wollende Ungewissheit hat eine Frustration geschürt, die bis heute anhält und sich in Misstrauen und Missverständnissen äußert. Dieselbe Unzufriedenheit, gemischt mit Ungeduld, spüren wir auf dem Westbalkan, einem vor allem für Italien strategisch wichtigen Gebiet.
In dieser instabilen Zeit drohen enttäuschte Erwartungen um so mehr erneut einen Boomerang-Effekt zu haben. Heute aufnehmen, um morgen integrieren zu können, ist eine geopolitische Priorität für die Union. Es ist unvorstellbar (und kontraproduktiv), denjenigen die Tür zu verschließen, die sich nach europäischer Demokratie sehnen und autokratische Modelle ablehnen.
Wir müssen eine europäische Konföderation aufbauen, eine Art größeren Ring, der die 27 EU-Mitgliedstaaten und die Kandidatenstaaten zusammenhält Die EU würde ihrem üblichen Kurs folgen, doch mit einem politisch sichtbaren Raum um sie herum, der die europäische Identität jener stärkt, die ihr angehören wollen.
Ein solcher Staatenbund kann den den offiziellen Beitrittsprozess nicht ersetzen – der parallel fortgeführt würde –, und dennoch könnte man eine wertvolle Alternative zum rigiden, binären “in oder out”-System anbieten. Ohne die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft in der Union zu verwässern, sollte die Konföderation Räume und Gelegenheiten vorsehen, um sich über die großen strategischen Entscheidungen Europas auszutauschen, angefangen bei der Außenpolitik, der Verteidigung des Friedens und dem Kampf gegen den Klimawandel. Ich stelle mir europäische Gipfeltreffen vor, bei denen wir am ersten Tag auf Unionsebene und am zweiten Tag auf konföderativer Ebene zusammenkommen.
3.
Die dritte Union, bei der sich bereits ein verändertes Tempo andeutet, betrifft ebenfalls die Aufnahme: es geht um die gemeinsame Asylpolitik. Es ist unnötig, an die Fehlschläge der letzten Jahre zu erinnern: Die Einwanderung ist das große schwarze Loch Europas. Teilweise aufgrund einer geografischen Asymmetrie der Betroffenheit erleben wir seit über einem Jahrzehnt eine Konfrontation zwischen den Mittelmeerländern, die bei der Aufnahme von Migranten sowie der Forderung nach einem gemeinsamen europäischen Ansatz der Migrationspolitik an vorderster Front stehen, und Mitteleuropa, das jedem Vorschlag zwischenstaatlicher Solidarität ablehnend gegenübersteht.
Die Ukraine-Krise kehrt dieses Szenario um. In wenigen Tagen ist Polen zum zweitwichtigsten Aufnahmeland für Geflüchtete weltweit geworden. Im selben Zeitraum wurde einstimmig beschlossen, erstmalig die “Richtlinie über vorübergehenden Schutz” zu aktivieren, ein Instrument, dass bereits 2001 eingeführt und seither wegen nationalen Vetos noch nie eingesetzt wurde.
Es ist ein historischer Moment: die Richtlinie garantiert Geflüchteten aus der Ukraine ein Aufenthaltsrecht für mindestens ein Jahr, ohne dass diese sich mit labyrinthartigen Verwaltungsprozeduren und Asylgesuchen auseinandersetzen müssen.
Das ist viel, doch es reicht nicht aus. Europa hat in einer Notsituation gut reagiert, jetzt muss eine strukturelle Antwort für den Umgang mit Migrationsströmen gefunden werden. Und das ist keine einfache Herausforderung. Mehrere Staaten erheben bereits Einwände, die sich auf Unterschiedlichkeiten zwischen den aus dem Osten ankommenden Menschen und denjenigen, die das Mittelmeer überqueren, stützen. Diese Einwände sind politisch und ethisch nicht akzeptabel. Sie zurückzuweisen und eine Vereinbarung zu finden, die Solidarität und Chancen miteinander in Einklang bringt, ist eine Reifeprüfung für die EU als Wertegemeinschaft.
4.
Viertes Kapitel: Europa und die Energie. Der Krieg in der Ukraine hat die politische Agenda durcheinander gebracht und die Frage der Abhängigkeit von fossilen Energieträger an oberste Stelle aufrücken lassen. Heute machen uns Gas und Erdöl in doppelter Weise verletzlich: geopolitisch und durch Klimaeffekte. Geopolitisch insofern, da auf dem Gebiet der EU praktisch keine Vorkommen von fossilen Brennstoffen liegen: nur 0,2 % der weltweiten Erdgasreserven und 0,1 % der Erdölvorräte. Und was das Klima betrifft, erinnert und der jüngste Bericht des Weltklimarats (IPCC) der Vereinten Nationen daran, dass “ohne eine unverzügliche und weitreichende Verringerung der Emissionen aller Sektoren, die Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5°C unmöglich wird” und dass folglich eine “substantielle Verringerung der Nutzung fossiler Brennstoffe” unumgänglich ist.
Angesichts dieser doppelten Verwundbarkeit gibt es nur eine Lösung: die Beschleunigung der Produktion von grüner Energie. Dies kann nicht ohne die europäische Dimension einer gemeinsamen Energiepolitik geschehen. Der REPowerEU-Plan ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch nun ist eine stärkere Integration der wichtigsten Elementen der Energieunion erforderlich: gemeinsame Versorgung, gemeinsame Speicher, Netzintegration und koordinierte Investitionsprojekte.
Vor allem dieser letzte Punkt ist essentiell um das zentrale Ziel zu erreichen: eine Vervielfältigung unsere Kapazität zur Energieproduktion aus erneuerbaren Quellen, um – endlich – Nachhaltigkeit und Energieautonomie zu verbinden. So können wir zugleich unabhängig von fossilen Energieträgern werden und von der Notwendigkeit Energieträger zu importieren. Diese Transition ist jedoch nur effizient, wenn sie auch gerecht ist. Alle Maßnahmen müssen sich in den Rahmen der europäischen Solidarität und das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit einfügen. Soziale Gerechtigkeit innerhalb der Länder, um den Gelbwesteneffekt zu vermeiden und eine gerechte Transition zu gewährleisten. Und soziale Gerechtigkeit auch zwischen den Staaten, denn auf dem Weg zur Energieunion müssen Ausgleichsmechanismen zwischen den Ländern angedacht werden, um zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Unterschiede im Binnenmarkt wachsen statt zu schrumpfen, wie uns Paolo Gentiloni immer wieder in Erinnerung ruft.
5.
Von der Energiesicherheit zur militärischen Sicherheit: die fünfte Union ist die Union der Verteidigung. Wenn man die öffentliche Debatte in den italienischen Medien verfolgt, erscheint dies als kurzfristige Idee, als etwas ganz Neues. Tatsächlich wurde die europäische Verteidigung seit dem Beginn des europäischen Integrationsprojekts diskutiert. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), einer föderal ausgerichtete Idee zur Lösung der europäischen Frage, entstand 1954 ein eher funktionalistischer Vorschlag, der 1957 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft führte. Seitdem gab es keine ernsthafte Debatte über eine gemeinsame Verteidigung mehr, zumindest nicht bis zur Wahl von Donald Trump.
Das Paradoxon der mangelnden Integration in Verteidigungsfragen lässt sich durch Zahlen belegen: Wenn man die Militärausgaben der 27 EU-Staaten zusammenzählt, sind sie fast viermal so hoch wie die der „militärischen Supermacht“ Russland. Dennoch schlägt sich dies nicht in einer angemessenen Verteidigungsfähigkeit nieder. Tatsächlich führen fehlende Synergien zu Ineffizienzen und Redundanzen, die noch nie so unvertretbar waren wie dieser Tage. Die neuen Sicherheits- und Verteidigungsanstrengungen, welche die europäischen Staaten bereits eingeleiteten haben, müssen mit dem Aufbau einer föderal inspirierten Steuerung einhergehen, die das Konzept der EVG aufgreift.
Romano Prodi schlägt einen Kurs vor, mit dem dies erreicht werden kann. Dieser beginnt mit einem Pakt zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Wenn die vier größten Staaten der EU nicht mitziehen, wird es unmöglich. Und solange wir daran scheitern, dann kann die Spannung, die derzeit auf den transatlantischen Beziehungen liegt und der Rolle der NATO liegt, nicht beigelegt werden. Die Widersprüche zwischen der von den USA von ihren europäischen Partnern geforderten „Lastenteilung“ bei den Verteidigungskosten und dem legitimen Wunsch der Europäer, ihre strategische Autonomie zu entwickeln, werden andauern. Wir müssen uns mit Entschlossenheit für die Verteidigungsunion entscheiden. Es ist der einzige Weg, um eine wirksame Synthese zwischen der Bedürfnis nach Schutz und der Notwendigkeit, unsere Identität als Wertemacht zu entwickeln, zu finden.
Das europäische Modell muss sich jedoch nicht nur gegen „äußere“ Feinde verteidigen. Es gibt auch erbitterte Gegner innerhalb unserer eigenen Demokratien. Gegenmittel finden sich insbesondere in den beiden letzten der zu verwirklichenden Unionen: der sechsten und der siebten.
6.
Die sechste Union ist die des sozialen Europas. In den letzten Jahren haben Populisten und Konservative ganz offen die Fundamente von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedroht. Um dieser inneren Bedrohung zu begegnen, muss das soziale Europa gestärkt werden, und dazu der im Mai vergangenen Jahres auf dem Gipfeltreffen in Porto eingeschlagene Weg fortgesetzt werden, beginnend mit den Bemühungen, den europäischen Plan gegen Arbeitslosigkeit SURE auszuweiten und zu strukturieren.
Nie zuvor gab es einen so untrennbaren Zusammenhang zwischen der Demokratie und dem europäischen Sozialmodell. In einer Phase großer Umbrüche bedarf es einer Demokratie mit starker sozialer Dimension: die ist der Raum der Umverteilung, der Solidarität und des rechtlichen Schutzes. So wie Jacques Delors es 2016 formulierte: „Wenn die europäische Politik den Zusammenhalt untergräbt und soziale Standards opfert, hat das europäische Projekt keine Mittel, um die Unterstützung der europäischen Bürger zu gewinnen“.
7.
Aus demselben Grund ist es nicht länger möglich, den Aufbau einer Gesundheitsunion – der siebten Union – aufzuschieben, die allen europäischen Bürgern die gleichen Standards für Gesundheitsversorgung und Wohlstand garantiert. Dabei gilt es territoriale Unterschiede zu überwinden, die selbst innerhalb Italiens immer noch skandalös sind. Ursula Von Der Leyen hat öffentlich ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass dies eines der Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas sein möge, jenes großen Prozesses der partizipativen Demokratie, der seit fast einem Jahr Bürger und Bürgerinnen, Sozialpartner, Zivilgesellschaft und Institutionen in eine transparente und integrative Diskussion einbindet. Diese Konferenz bietet eine große Chance, dem Weg der europäischen Integration neuen Schwung zu verleihen, und zwar erstmals auf Grundlage von Vorgaben, die aus Überlegungen und Diskussionen der Bürger und Bürgerinnen hervorgehen und somit über die herkömmlichen Partizipationsinstrumente der repräsentativen Demokratie hinausgehen. Diese Chance droht jedoch vertan zu werden, wenn es keinen klaren politischen Willen gibt, ihre Erkenntnisse ernst zu nehmen, verbunden mit einem konkreten Engagement, sie voranzutreiben.
Diese sieben Unionen können selbstverständlich nicht ohne eine Reform der europäischen Wirtschaftssteuerung gedacht werden. Eine Verlängerung der Aussetzung des Stabilitätspaktes – die vor dem Hintergrund des Krieges so schnell wie möglich angekündigt werden sollte – darf nicht als Ausrede dienen um einmal mehr eine ernsthafte Diskussion dieser Frage zu verschieden. Eine Reform des Stabilitätspaktes ist unumgänglich und seit langem fällig. Die Verabschiedung eines gemeinsamen Papiers von Spanien und den Niederlanden am 4. April zeigt, dass die Debatte eröffnet ist und Raum für neuartige Allianzen bietet. Italien muss eine Führungsrolle übernehmen, da es um eine strategisch wichtige Verhandlung für unsere Wirtschaft geht, die sich eine dritte Rezession innerhalb von zehn Jahren nicht leisten kann. Es muss gelingen, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, so wie es Italien beim Aufbau von Next Generation EU getan hat und nun für dessen effektive Umsetzung tun muss. Der Stabilitätspakt muss zum Nachhaltigkeitspakt werden, der strukturell jene öffentlichen Investitionen ermöglicht, die für den ökologischen Wandel und die Wiederbelebung einer nachhaltigen Wirtschaft im Einklang mit der Strategie von Next Generation EU notwendig sind. Innerhalb dieses neuen Rahmens sollten die Regeln für den Schuldenabbau an den Kontext des jeweiligen Landes angepasst werden, so wie von Spanien und den Niederlanden beschrieben, um das Wachstum nicht abzuwürgen und die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
In all diesen Bereichen versucht Europa, zeitgemäße Antworten zu finden. Die derzeitige institutionelle Architektur der Union ermöglicht bereits Fortschritte auf dem Weg zu einem besser koordinierten und wirkungsvolleren Vorgehen. Doch das genügt nicht: Was wir brauchen, ist ein Durchbruch, eine Vision. Denn im Rahmen der bestehenden Verträge gibt es Grenzen für einen weiteren Fortschritt bei der europäischen Integration. All dies lässt sich in einem Wort zusammenfassen: „Einstimmigkeit“. Es sind die nationalen Vetos, die nicht zulassen, dass die EU effizienter agiert.
Ein Beispiel genügt um sich die Absurdität der Lage bewusst zu machen: 2020 nach dem Wahlbetrug in Belarus und dem gewaltvollen Niederschlag der Demonstrationen hat die EU-Kommission unverzüglich eine Reihe von Sanktionen verkündet, die jedoch für mehr als einen Monat durch eine einzige Gegenstimme von Zypern blockiert wurde. Es ist schwierig, nicht zu vermuten, dass diese Verzögerung eines der Signale war, die Putin dazu gebracht haben, alles zu riskieren, überzeugt, dass die Union nicht in der Lage sein, auf eine Invasion im großen Maßstab zu reagieren.
Das Vetorecht ist vielleicht eine der größten Paradoxien der Union: Es ist ein wesentliches Element der europäischen Schwäche, aber auch dasjenige, das von bestimmten nationalen Führern am häufigsten benutzt wird, um sich trügerisch stark zu fühlen. Allen voran der ungarische Premierminister Orbán, der nach seiner Wiederwahl die von der Bevölkerung verliehene Legitimität nutzte, um sich für das Veto stark zu machen. Er setzte es nicht nur bei einer einzigen Frage ein, sondern drohte vielmehr mit der größeren Gefahr, es systematisch einzusetzen. Die Einstimmigkeit war schon immer das größte Hindernis für die europäische Integration. Wir haben das seit der Zeit von Margaret Thatcher gesehen, deren europäisches Erbe sehr schwer wiegt. Durch die ständige Festlegung von Grenzen, Bremsen und Hindernissen hat sie die Europäische Union zu einem asymmetrischen Gebilde gemacht, das bei der wirtschaftlichen Integration sehr weit fortgeschritten, an den Fronten der politischen Integration und des Sozialschutzes jedoch sehr schwach ist. Noch heute zahlen wir für diesen Schaden.
Ohne einen institutionellen Sprung nach vorn wird die Union in der Welt von heute und vor allem in der Welt von morgen keine echte Wertemacht sein. Die Änderung der Verträge darf kein Tabu mehr sein, sondern muss zu einem konkreten politischen Kampf werden.
Heute, da die ganze Welt bereit scheint, taktische Positionen angesichts von Not und höheren Interessen aufzugeben, öffnet sich ein Möglichkeitsfenster. Es ist an der Zeit, eine neue europäische Konvention zu entwickeln, die an die Konferenz zur Zukunft Europas anknüpft. Die Konvention ist die logische Folge der Konferenz: ausgehend von den mit den Institutionen und Sozialpartnern diskutierten Vorschlägen der Bürger und Bürgerinnen, mit dem Ziel einer Reform der Verträge. Das wäre das erste große Beispiel für das Potential der Demokratie im dritten Millennium. Diese logische Kontinuität wird auch durch die Makrothemen nahegelegt, mit denen sich die Konferenz zur Zukunft Europas befasst, und die sich weitgehend mit den oben genannten Anforderungen decken. Es wäre zudem eine schöne Art, das Andenken an David Sassoli zu würdigen, der einer der leidenschaftlichsten Unterstützer der Konferenz war. Somit findet die Konvention ihre Legitimität und Stärke in den Grundsätzen unseres demokratischen Modells selbst.
Wir benötigen einen “starken” Moment wie die Konvention, denn die Umwälzungen des letzten Monats sind nicht minder stark. Eine “Revision” der institutionellen Infrastruktur der Union kann nicht genügen. Was wir neben den vielen politischen Entscheidungen brauchen, ist vor allem die Politik an sich. Anders ausgedrückt: Die politischen Instrumente müssen von einer europäischen Doktrin, einer ehrgeizigen Vision begleitet werden, wenn wir die Union wirklich in eine Macht der Werte überführen wollen. „Seele und Schraubenzieher“ 1 gemeinsam, auch in der Europäischen Union, um unsere Rolle in der Welt zu verteidigen, die Menschen zu schützen und unsere Demokratien zu stärken.
Diese Stärkung muss von effizienteren Regeln zum Schutz unserer Werte innerhalb der Union selbst begleitet sein. Wir können keine Wertemacht sein, wenn wir nicht kohärent mit unseren Werten umgehen: wir müssen Mechanismen einrichten, die effektiv Mitgliedstaaten blockieren und sanktionieren, die diese in Frage stellen, besonder indem wir die in Next Generation EU eingeführten Kriterien auf alle europäischen Finanzmittel ausweiten. Diese knüpfen die Allokation von Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien.
Doch die Seele verpflichtet uns auch dazu, unangenehme Fragen zu stellen. Die europäischen Werte der Demokratie und Offenheit werden nicht nur von Putins Ambitionen angegriffen, sondern auch von politischen, demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, denen wir ins Auge sehen müssen. Wie kann man auf den Aufstieg autokratischer Regime reagieren, die in den letzten Jahren weltweit zahlenmäßig die Demokratien überboten haben ? Auf welcher Grundlage sind wir bereit, uns ihnen zu stellen? Und was sind die roten Linien, die wir nicht überschreiten dürfen, wenn wir unsere Werte nicht verraten wollen? Weder Isolationismus noch Zynismus sind mit der europäischen Identität vereinbar: Wir brauchen eine neue und unverwechselbare Antwort.
Und welche Antwort gibt man den sich verbreitenden ökonomischen Modellen, die die Regeln des ökonomischen Multilateralismus auf den Prüfstand stellen ? Die Welthandelsorganisation (WTO) entstammt einer Epoche, in der 60% des weltweiten BIP in offenen Wirtschaften des westlichen Typs generiert wurde, doch die Berechnungen von Bloomberg deuten an, dass dieser Anteil bis 2050 auf 26% fallen wird.
Sind wir bereit ein offenes Wirtschaftsmodell zu verteidigen, ohne in jene Naivität zu verfallen, die und in den letzten Jahren einer untreuen Konkurrenz des chinesischen Modells – getragen von staatlichen Subventionen getragen ist und ohne Respekt vor sozialen und ökonomischen Normen – ausgesetzt hat? Wie stellen wir uns unsere Partner für eine neue Globalisierung vor, die endlich der sozialen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Priorität einräumt ?
Die Verteidigung des Friedens und unseres europäischen Modells hängt von der Antwort auf diese Fragen ab.
Die europäische Konvention ist der beste Ort um diese Frage zu vertiefen und in dieser Weise die EU endlich mit neuen Instrumenten auszustatten, die den globalen Herausforderungen und unseren Werten gerecht werden. Heute haben wir die Gelegenheit eine neue Seite auf dem Weg der europäischen Integration aufzuschlagen. Wir haben die Aufgabe, diese sieben Unionen zu verwirklichen. Und um das zu tun, schlagen wir der progressiven europäischen Familie vor, dies zu unserer gemeinsamen Mission zu machen.
Italien muss sich, wie die anderen europäischen Staaten, voll und ganz eines Epochenwechsels gewahr sein, der mutige Entscheidungen erfordert, wenn wir in der Welt von morgen noch existieren und einflussreich sein wollen. Als die europäische Integration begann, war die Welt klein, mit weniger als drei Milliarden Menschen. Heute sind es bereits acht. Wir Europäer waren eine halbe Milliarde von dreien und heute sind wir immer noch eine halbe Milliarde, aber von acht. In dieser kleinen Welt waren wir große Länder. Italien, wie Frankreich oder Deutschland. Heute wandeln wir uns von großen Ländern in einer kleinen Welt zu viel kleineren Ländern in einer großen Welt. Um in der heutigen großen Welt einflussreich und in der Lage zu sein, uns zu schützen, müssen wir die bewusste Entscheidung treffen, uns zusammenzuschließen. Nur auf diese Weise werden wir morgen gemeinsam groß genug sein, um so einflussreich zu sein, wie es einzelne europäische Länder im letzten Jahrhundert waren. Wenn wir den Sirenenklängen der Souveränisten und Nationalisten folgen, wenn wir uns nicht ein für alle Mal vereinen, wenn wir diese sieben Unionen nicht zu Ende führen, werden wir eine Zukunft als kleine, unbedeutende Länder haben, die gezwungen sind, sich unter den Schutz anderer zu begeben, um zu überleben. Putins Krieg hat alle Zweifel und Alibis beseitigt. Wir müssen uns für unsere Zukunft und die unserer Kinder entscheiden. Jetzt.