Am 20. April hat Henrik Enderlein zum letzten Mal getwittert. Mit seinem Tweet erinnerte er daran, dass er im Januar 2020 auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Debatte zwischen Annalena Baerbock, der heutigen Kanzlerkandidatin der Grünen, und Armin Laschet, dem Kandidaten der CDU, moderiert hatte. Zwischen diesen beiden Persönlichkeiten, die aller Wahrscheinlichkeit nach in ein paar Monaten koalieren werden und von denen der eine oder die andere Deutschland führen wird, ist die Übereinstimmung, so der Tweet, „bemerkenswert”.

In seiner Anmoderation setzte Enderlein den Rahmen für die Debatte. Er identifizierte drei Gegensätze, die die Debatte in Europa strukturieren: den Gegensatz zwischen europäischen und nationalen Ansätzen, zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften und zwischen liberaler und illiberaler Demokratie. Es sei verlockend, aber zu einfach, sie als den einzigen Gegensatz zwischen den Befürwortern von Europa, Offenheit und Demokratie und den Anhängern von Nation, Rückzug und Autoritarismus zusammenzufassen. Und er lud die Redner dazu ein, zu erläutern, wie ein Europa aufgebaut werden könne, das schütze.

So entwickelte sich auf dem Podium ein deutscher Austausch, zu einem sehr französischen Thema. Das war charakteristisch für Henrik Enderleins Herangehensweise. Immer wieder hat er die eine Seite des Rheins anhand der Überlegungen der anderen unerbittlich in Frage gestellt und niemals einen Konsens, der auf Vorurteilen oder Unwissenheit beruhte, zugelassen. Seine bemerkenswerte Kenntnis der Debatten in beiden Ländern sowie ihrer Hauptakteure ermöglichte es ihm, diese Rolle wachsam mit Bedeutsamkeit auszufüllen. Mit ihm konnte man die französischen Säkularismus-Kontroversen besprechen, und gleich darauf das letzte Urteil des Bundesverfassungsgerichts: In beiden Fällen war ihm jegliches Detail der jeweiligen Problematik bewusst.

So entwickelte sich auf dem Podium ein deutscher Austausch, zu einem sehr französischen Thema. Das war charakteristisch für Henrik Enderleins Herangehensweise. Immer wieder hat er die eine Seite des Rheins anhand der Überlegungen der anderen unerbittlich in Frage gestellt und niemals einen Konsens, der auf Vorurteilen oder Unwissenheit beruhte, zugelassen.

Jean-Pisani Ferry

Die deutsch-französische Debatte nimmt zu oft die Form einer abgesprochenen Übung an, die zu substanzlosen Kompromissen zwischen Akteuren führt, die nicht auf die gleiche Weise denken und sich im Grunde nicht verstehen. Mit Enderlein war das Gegenteil der Fall: Inhalt statt Show, Engagement statt Misstrauen, die Suche nach tatsächlicher Einigung, statt sich vor den Positionen des anderen zu schützen. So musste beispielsweise ein Bericht, an dem er mitschrieb, und den zwei Minister in Auftrag gegeben hatten, sowohl die deutsche, als auch die französische Seite irritieren.   

Zwischen Frankreich und Deutschland war er also nicht einfach ein Kurier, der so viel hin und her pendelt, dass er seine Orientierung verliert. Er wollte verstehen und erklären, vor allem aber überzeugen. Für sein Lieblingsthema Europa hat er nie aufgehört zu kämpfen.

Durch seine Arbeit mit Tommaso Padoa-Schioppa in seinen frühen Tagen bei der Europäischen Zentralbank, hatte Henrik Enderlein eine anspruchsvolle Vorstellung, welche Bedingungen für den Erfolg des gemeinsamen Währungsprojekts erfüllt sein müssen. Wie sein Mentor fürchtete er weniger die – weitgehend imaginären – Angriffe auf die Unabhängigkeit der Zentralbank, sondern vielmehr eine monetäre Konstruktion ohne ausreichende politische Integration. Deshalb argumentierte er auch entschieden gegen eine typisch deutsche Einschätzung, derzufolge es vor allem darum ging, haushaltspolitische Verantwortungslosigkeit zu verhindern. Von der messerscharfen Diagnose der „Glienicker Gruppe“ bis zu den Vorschlägen der „7 + 7“, um nur zwei herausragende Berichte zu nennen, an denen er mitwirkte, zeugen seine Arbeiten von diesem Anspruch.

War er aber, um den Titel seines Nachrufs in der Frankfurter Allgemeinen zu verwenden, „Der Europäer“? Seine Artikel über Schwellenländeranleihen, die er mit seinem ehemaligen Studenten Christoph Trebesch, auf den er stolz war, veröffentlicht hatte, reichen offensichtlich nicht aus, um eine Liste von Publikationen auszugleichen, die vom europäischen Thema dominiert wird. Aber Enderlein war weder ein Mann einer einzigen Sache, noch hat er sich als Europaaktivist definiert. Wenn er Europa so viel Energie widmete, dann zweifellos deshalb, weil seine intellektuelle Reife mit einer akuten Krise des Einigungsprojekts des Kontinents zusammenfiel und er wusste, dass ein Scheitern dieses Projektes zu einer dramatischen Einschränkung der Möglichkeiten führen würde.

Die Politik zog ihn an. Er stand den Sozialdemokraten nahe und versuchte, zur Erneuerung der Programmatik einer alternden Partei beizutragen, mit deren Verantwortlichen er in engem Austausch stand. Mehr als einmal haben sie ihn in ein SPD-geführtes Ministerium holen wollen. Aber es war nicht der richtige Moment für diesen Sprung und dafür, seine berufliche Identität als Ökonom gegen einen Parteistempel einzutauschen. Er wusste, wie klüngelhaft die deutsche Politik sein kann und zog es vor, vorerst seinen eigenen Weg zu gehen.

Die deutsch-französische Debatte nimmt zu oft die Form einer abgesprochenen Übung an, die zu substanzlosen Kompromissen zwischen Akteuren führt, die nicht auf die gleiche Weise denken und sich im Grunde nicht verstehen. Mit Enderlein war das Gegenteil der Fall: Inhalt statt Show, Engagement statt Misstrauen, die Suche nach tatsächlicher Einigung, statt sich vor den Positionen des anderen zu schützen.

Jean Pisani-Ferry

2018 hatte er die Präsidentschaft der Hertie School übernommen, einer jungen Public-Affairs-Schule mit Sitz in Berlin, an deren Entwicklung er von Anfang an beteiligt war und die er zu einer Universität im wahrsten Sinne des Wortes umbauen wollte. An der Hertie School organisierte er 2017 erstmals eine Debatte zwischen dem Kandidaten Emmanuel Macron, Sigmar Gabriel und Jürgen Habermas. Als weltoffene Institution, die nach Innovationen Ausschau hält, ist sie das Abbild einer Stadt, die zunehmend in Ideen investiert, weil sie weiß, dass sie, wenn sie schon keine wirtschaftliche Hauptstadt ist, so doch den Anspruch erheben kann, eine intellektuelle Hauptstadt zu sein. Als er im Februar 2021 zurücktreten musste, war Henrik Enderlein mitten drin, sie zu einer unvermeidlichen Institution, an der Schnittstelle von Forschung und Debatten zu machen.

Wie so viele andere seiner Generation war er ohne Illusionen. Aber nicht ohne Träume. In München hatte er einen Teil davon skizziert: ein Bündnis von Europa, von Offenheit und Demokratie geprägt das er hartnäckig für möglich hielt. Er war zu scharfsinnig, um die Widersprüche in diesem Projekt nicht zu sehen, aber zu entschlossen, es einfach aufzugeben. Gleichzeitig strebte er danach, der Linken zu helfen, Realismus und Fortschrittsstreben zu versöhnen, und hatte sich, so seine Krankheit ihm Pausen ließ, der Lektüre von Robert Caros monumentaler Biografie über Lyndon Johnson gewidmet. Politisches Geschick und sozialer Fortschritt: Die Kombination sprach ihn an. 

Henrik war all dies. Er war vor allem auch ein Mensch voller Lebendigkeit, voller Wärme, voller Begeisterung, er besaß ein großes Talent zu lehren, er hatte die Kraft der Freundschaft in sich, die Vorurteile entwaffnete und Flügel verlieh. Kohorten von Studierenden haben diese Erfahrung gemacht. Viele seiner älteren Freunde haben genau dies mit ihm auch erlebt, so dass sie sich heute seltsam verlassen fühlen von ihrem jüngeren Mitstreiter.