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Roberto Calasso, Prix Grand Continent 2021

In seiner ersten Ausgabe wird der Prix Grand Continent ausnahmsweise für das Gesamtwerk einer entscheidenden Figur der zeitgenössischen Literatur verliehen: Roberto Calasso.

Text by
Roberto Calasso
Cover
© Mimmo Frassineti/AGF

In den griechischen Mythen war vieles versteckt enthalten, was für uns verloren ist. Wenn wir nächtlichen Himmel betrachten, ist der erste Eindruck der des Erstaunens angesichts einer stochastischen Fülle, die sich auf einem dunklen Hintergrund ausbreitet. Platon erkannte noch »die Friese am Himmel«. Une er war der Meinung, diese Friese wären »die schönsten und genauesten«. Bilder im Bereich des Sichtbaren. Uns dagegen scheint die Wahrehmung einer Ordnung, und erst recht einer Bewegung innerhalb dieser Ordnung, verwehrt, da, wo eine weiße ausgefranste Schärpe, die Milchstraße, unseren Blick trifft, der Gürtel einer Riesin. Und sofort denken wir an die Entfernungen, an die unvorstellbaren Lichtjahre. Wir haben die, auch optische, Fähigkeit verloren, die Mythen am Himmel anzusiedeln. Une doch erscheinen uns die auf die duftende Schale ihrer Geschichten reduzierten griechischen Mythen so miteinander verbunden und verkettet – auch in ihren kleinsten Varianten –, als wüßten wir, weshalb sie miteinander verkettet sind. Aber wir wissen es nicht. Ein Zug des Hermes, der Artemis, der Aphrodite oder der Athene ist Teil ihrer Gestalt, so als ob sich der gleiche Stoff in hier und dort verstreuten Fetzen wiederfände.

Wir dürfen dem Verlust viele mythischer Geheimnisse nicht allzusehr nachtrauern, auch wenn wir lernen müssen, den Mangel wahrzunehmen, den weiten Bereich des nicht Entzifferten. Es wäre, als erwarteten wir beim Blick zum Himmelsgewölbe, sieben Sirenen zu sehen, von denen jede einen Ton um einen der Himmel anstimmt. Wir erkennen nicht nur nicht die Sirenen, sondern wir sind auch nicht mehr in der Lage, die Himmel zu unterschieden. Und trotzdem. Und trotzdem können wir uns immer noch in diese Stoffetzen, in diese verstümmelten Göttergeschichten einhüllen. Und dieser Stoff webt sich in der Welt ebenso wie in unserem Geist unaufhörlich weiter.

Seit Jahrhunderten spricht man von den griechischen Mythen wie von etwas, das wiedergefunden, wiedererweckt werden müßte.In Wirklichkeit aber sind es diese Geschichten, die noch immer darauf warten, uns aufzuwecken und von uns betrachten zu werden, wie ein Baum von unseren sich wieder öffnenden Augen.

Mythen bestehen aus Handlungen, die ihr Gegenteil in sich einschließen. Der Held tötet das Ungeheuer, aber in dieser Tat wird spürbar, daß auch das Gegenteil wahr ist: das Ungeheuer tötet den Helden. Der Held raubt die Prinzessin, aber in dieser Tat wird spürbar, daß auch das Gegenteil wahr ist: der Held verläßt die Prinzessin. Was gibt uns diese Gewißheit? Wir ersehen es aus den Varianten, die der Kreislauf des mythischen Bluts sind. Aber räumen wir einmal ein, alle Varianten eines bestimmten Mythos würden verschwinden, ausgelöscht von unsichtbarer Hand. Ist der Mythos dann noch derselbe? An diesem Punkt gelangt man zu der höchst subtilen Unterscheidung zwischen Mythos und jeder anderen Art von Erzählung. Auch ohne Varianten birgt der Mythos sein Gegenteil in sich. Welchen Beweis gibt es dafür? Die Kunst des Romans. Der Roman, diese Erzählung, die die Varianten abschneidet, unternimmt den Versuch, sie zurückzugewinnen, indem sie die Dichte des einzigen Textes, dem si sich anvertrauen muß, steigert. Als strebe sie ihrem Paradies zu, zielt die Romanhandlung auf die Einbeziehung des Gegenteils ab, über das der Mythos von Geburt an verfügt.

Der Mythenerzähler lebt in einem ständigen chronologischen Wirbel, den er zu beseitigen vorgibt. Wenn er wie ein alter Haushofmeister, der die Familienangelegenheiten seiner Herrschaft besser kennt als sie selbst, auf einem Schreibtisch Ordnung in die Generationen und Dynastien bringt, kann man gewiß sein, daß unterdessen auf einem anderen Tisch das Durcheinander anwächst und die Fäden sich verwickeln. Keinem Mythographen ist es je gelungen, sein Material in zusammenhängender Folge darzustellen, und doch hatten sich alle vorgenommen, Ordnung zu schaffen. Darin blieben sie dem Mythos treu.

Die mythische Tat ist eine Woge, die im Augenblick, in dem sie sich bricht, ein scharfes Profil erkennen läßt, so wie geworfene Würfel eine Zahl ergeben. Doch wenn sie sich zurückzieht, wächst in ihrem Sog das unbewältigte Durcheinander und schließlich die Vermischung an: die Unordnung, aus der heraus eine neue mythische Tat entsteht. Das ist der Grund, weshalb der Mythos kein System zuläßt. Und das System selber ist in erster Linie ein Zipfel vom Umhang eines Gottes, eine weniger wichtige Hinterlassenschaft Apollons.

Die griechischen Mythen waren Geschichten, die mit Varianten überliefert wurden. Der Dichter – ob nun Pindar oder Ovid – fügte sie wieder zusammen, jedesmal in anderer Weise. Dabei ließ er aus und fügte hinzu. Aber neue Varianten durfte es nur wenige geben, und sie durften nicht auffallen. Auf diese Weise vergrößerte und verfeinerte jeder Dichter der Geschichten. Auf diese Weise atmete der Mythos in der Literatur weiter. 

Der erhabene Autor des Erhabenen führte die Literatur auf die megalophía zurück, auf eine »Größe, die aus der Natur stammt« und der bisweilen gelingt, eine ähnliche Natur im Geist des Lesenden zu entzünden. Aber wie kann die Klarheit des rhetorischen Apparats hinnehmen? Wie sich der Ostentation der téchne entziehen? Das chassé-croisé von Natur und Kunst, das zweitausend Jahre lang kommentiert und in Majuskeln des siebzehnten Jahrhunderts verewigt werden sollte, wurde in jener Zeit, zur Hochblüte der klassischen Dekadenz, kurzerhand mit einem ausgeführt: »Mithin ist die Kunst in der Tat vollkommen, wenn sie wie die Natur erscheint, während die Natur ins Schwarze trifft, wenn sie die Kunst in sich verbirgt.«

Die Vollkommenheit, jede Art von Vollkommenheit, erfordert immer irgendein Verbergen. Das Vollkommene kann es nicht geben, wenn sich nicht etwas verbirgt oder verborgen bleibt. Aber wie kann der Dichter die Klarheit des Wortes und die seiner Figuren verbergen? Vermöge des Lichts. Der Anonymus schreibt: »Wie aber hat es der Rhetor fertiggebracht, die Figur, die er benutzte, zu verbergen? Es ist klar, daß er sie mit dem Licht selbst verborgen hat.« Mit dem Licht verbergen: eine griechische Eigentümlichkeit. Zeus hörte nicht auf, mit dem Licht zu verbergen. Daher ist alles Licht außerhalb des griechischen von anderer Art und weitaus weniger intensiv. Dieses Licht will das Verborgene aufstöbern, während das griechische Licht das Verborgene schützt. Es erlaubt, daß es sich als solches auch in der Klarheit des Tages zeigt. Mehr noch: es gelingt ihm sogar, die Klarheit zu etwas Verborgenem zu machen, das schwarz ist vor Licht,so wie die rhetorische Figur unerkennbar wird, wenn der Glanz in sie dringt und eine »sich überall ausbreitende Größe« sie überflutet. Zu diesem Ergebnis gelangte der Anonymus durch die literarische Analyse. Daher meinte er zu recht, daß »das Urteil über die Literatur das vollkommene Ergebnis einer großen Erfahrung ist«.

Credits
Roberto Calasso, Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Suhrkamp, 2016, pp. 302-305. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1990
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