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Dieser Text ist auch auf Englisch auf der Website der Groupe d’études géopolitiques verfügbar.

Für die Europäische Union und ihre Außenpolitik werden die Auswirkungen der COVID-19-Krise von den Entscheidungen abhängen, die wir in den kommenden Monaten treffen. 

Wir erleben eine ernsthafte Krise des Multilateralismus. Die G7 und G20 treten kaum in Erscheinung; der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist gelähmt und zahlreiche internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation oder die Weltgesundheitsorganisation sind zu Schauplätzen zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen geworden.

Wir befinden uns zum ersten Mal seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Krise, in der die Vereinigten Staaten keine Führungsrolle übernehmen. Gleichzeitig tritt China immer selbstbewusster auf der globalen Bühne auf. Und vielerorts ist ein Machtzuwachs autoritärer Regime zu beobachten.

Zudem sorgt die aktuelle Krise für wachsende zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten. Schließlich verfügen nicht alle über die gleichen Möglichkeiten, sich den Herausforderungen der Pandemie zu stellen und es gibt Rückschritte im Kampf gegen Armut und weltweite Ungleichheiten. 

Die Kombination dieser Tendenzen bringt Europa in eine schwierige Lage. Zwar eröffnet die Wahl von Joe Biden in den Vereinigten Staaten ermutigende Perspektiven für den Multilateralismus und unsere demokratischen Werte auf globaler Ebene, aber wir sollten keine Wunder erwarten. 

Ist Europa zu uneins, um eine wirkliche Außenpolitik zu betreiben? 

Damit unsere Außenpolitik stärker wird, betone ich seit meinem Amtsantritt, dass die EU „die Sprache der Macht lernen“ muss. Man antwortet mir oft, dass die Union zu uneins sei, um dieses Ziel zu erreichen.

Zwar eröffnet die Wahl von Joe Biden in den Vereinigten Staaten ermutigende Perspektiven für den Multilateralismus und unsere demokratischen Werte auf globaler Ebene, aber wir sollten keine Wunder erwarten.

Josep Borrell

Ich bin seit vielen Jahren in der europäischen Politik aktiv und bin mir sehr bewusst, wie sehr sich das Europa der 27 von dem der 12 unterscheidet. Die Unterschiede innerhalb der EU haben seit der Osterweiterung zweifellos zugenommen. Darin liegt jedoch nicht die einzige Ursache. Der „Bruch“, den wir beispielsweise in der Migrationsfrage feststellen, besteht nicht nur zwischen Westen und Osten. Und der „Bruch“ zwischen Norden und Süden, also zwischen Kreditgeber- und Schuldnerstaaten, betrifft in erster Linie Länder, die schon vor der Erweiterung EU-Mitglied waren. 

Aufgrund unserer Verschiedenheit haben wir Europäer aus dem Norden, Süden, Osten und Westen des Kontinents oft nicht denselben Blick auf die Welt. Erlauben Sie mir, dies anhand eines persönlichen Beispiels zu illustrieren. Meine polnischen Freunde sagen mir oft, dass sie ihre Freiheit Papst Johannes Paul II. sowie den Vereinigten Staaten von Ronald Reagan verdanken. Und sie haben recht. Gleichzeitig denke ich aber, so wie viele Spanier, dass wir es auch den Vereinigten Staaten und dem Papst zu verdanken haben, dass wir 40 Jahre lang die Franco-Diktatur erleiden mussten. Schließlich konnte Franco nur solange an der Macht bleiben, weil er von Anfang an durch die katholische Kirche und später, im Kontext des Kalten Krieges, durch die Vereinigten Staaten gestützt wurde. 

Die Unterschiede in Europa sind eine Bereicherung, wenn wir in der Lage sind uns auf das zu konzentrieren, was uns eint. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass sie im Bereich der Außenpolitik auch für Herausforderungen sorgen. Das haben wir erst kürzlich wieder beim Thema der Sanktionen infolge der gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus feststellen müssen. Die EU hat fast zwei Monate gebraucht, um dazu eine Entscheidung zu treffen und darunter hat unsere Glaubwürdigkeit gelitten.

Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass wir derartige Brüche erleben. Vom Zerfall Jugoslawiens über den Irakkrieg 2003 und die Unabhängigkeit des Kosovo, oder auch die Libyen-Frage und die türkischen Aktivitäten im Mittelmeerraum bis hin zum Friedensprozess im Nahen Osten, haben sie häufig den Entscheidungsprozess der EU gelähmt oder Reaktionen gehaltlos gemacht.

Gleichzeitig denke ich aber, so wie viele Spanier, dass wir es auch den Vereinigten Staaten und dem Papst zu verdanken haben, dass wir 40 Jahre lang die Franco-Diktatur erleiden mussten. Schließlich konnte Franco nur solange an der Macht bleiben, weil er von Anfang an durch die katholische Kirche und später, im Kontext des Kalten Krieges, durch die Vereinigten Staaten gestützt wurde.

JOSEP BORRELL

Wie kann die Entscheidungsfindung in der europäischen Außenpolitik aussehen? 

Was sollen wir also tun? Die wichtigste Antwort liegt darin, eine gemeinsame strategische Kultur zu schaffen: Je mehr sich die Europäer in ihrer Sicht auf die Welt und ihre Problemlagen annähern, desto mehr können sie sich über den Umgang damit einigen. Das wollen wir erreichen, indem wir mit den Mitgliedsstaaten einen „Strategic Compass “ für die Union aufbauen. Für eine solche Aufgabe ist naturgemäß ein langer Atem nötig. Und in der Zwischenzeit müssen wir in der Lage sein, laufend über schwierige Fragen zu entscheiden.

Die Außen- und Sicherheitspolitik liegt weiterhin in der alleinigen Hoheit der Staaten, und Entscheidungen in diesem Bereich müssen einstimmig getroffen werden, da jedes Land ein Vetorecht besitzt. Doch vielfach handelt es sich um Ja-Nein-Entscheidungen: Anerkennung oder Nichtanerkennung einer Regierung, Einsatz einer Krisenmanagement-Operation . Das führt häufig zu Blockaden und steht in deutlichem Gegensatz zu anderen Politikbereichen, vom Binnenmarkt über die Migrationspolitik bis hin zum Klima, in denen die EU mit qualifizierter Mehrheit (55% der Mitgliedsstaaten und 65% der Bevölkerung) entscheiden kann. Und das, obwohl sich bei diesen Fragen oft ebenso wichtige nationale Interessen gegenüberstehen wie in der Außenpolitik.

Auch in Bereichen, in denen die EU mit qualifizierter Mehrheit Entscheidungen fällen kann, nutzt sie diese Möglichkeit sehr wenig. Warum? Weil wir es stets vorziehen, Kompromisse zu finden, in denen sich alle wiederfinden. Doch um zu einem solchen Ergebnis zu kommen, müssen alle Staaten akzeptieren, in Einigkeit zu investieren. Und die Drohkulisse, bei einem eventuellen Mehrheitsentscheid überstimmt werden zu können, spornt sie dazu an. 

Seit meinem Amtsantritt habe ich betont, dass wir manche Entscheidungen in der Außenpolitik ohne die Forderung nach Einstimmigkeit der 27 treffen müssten, um eine Lähmung zu vermeiden. Und als im vergangenen Februar der Start der Operation Irini zur Überwachung des Waffenembargos gegen Libyen blockiert war, habe ich die Frage aufgeworfen, inwieweit es vernünftig ist, dass ein einzelnes Land die anderen 26 am Vorankommen hindern kann – auch dann, wenn es ohnehin nicht an der Operation teilnimmt.

Es geht wohlgemerkt nicht darum, alle Entscheidungen in der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. Aber wir könnten darauf in Bereichen zurückgreifen, in denen wir in der Vergangenheit mehrfach blockiert waren – mitunter aus Gründen, die mit der eigentlichen Frage nichts zu tun hatten –, etwa im Bereich Menschenrechte und Sanktionen. In ihrer jüngsten Rede zur Lage der Union hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesen Vorschlag übrigens aufgegriffen, während der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, sich ablehnend geäußert hat.

Natürlich bestehen auch andere Möglichkeiten. Manchmal ist es besser, wie ich es bereits getan habe, eine von 25 Mitgliedstaaten unterstützte substanzielle Stellungnahme zu veröffentlichen, als auf eine Erklärung der 27 zu warten , die sich dann auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beschränkt.

So wie im EU-Vertrag vorgesehen, kann man auch auf eine „konstruktive Enthaltung“ zurückgreifen: ein Mitglied unterstützt eine Position nicht, hindert aber nicht die gesamte Union daran, voranzukommen. Auf diesem Wege wurde beispielsweise im Jahr 2008 die EULEX-Mission im Kosovo lanciert.

Ich hoffe, dass wir in den kommenden Monaten, insbesondere im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas, über die Möglichkeiten sprechen können, die Entscheidungsprozesse im Bereich der Außenpolitik zu erleichtern. Die EU muss dringend ihre Handlungsfähigkeit in einer gefährlichen Welt erweitern.

Wir können die EU-Skepsis zurückdrängen

In den letzten Jahren haben wir außerdem in zahlreichen Mitgliedsstaaten einen Auftrieb der EU-Skepsis erlebt. Es fällt „uns“ – Wissenschaftlern, politischen Verantwortlichen usw. – oft schwer, es den Populisten gleichzutun, also Themen so zu vereinfachen, dass damit in erster Linie Emotionen ansprechen. Es wird immer einfacher sein, „Amerika First“ zu rufen, als eine „regelbasierte internationale Ordnung“ einzufordern.

Es wird immer einfacher sein, „Amerika First“ zu rufen, als eine „regelbasierte internationale Ordnung“ einzufordern.

JOSEP BORRELL

Die Details der Arbeit der Kommission oder die komplexe Dynamik unserer Institutionen lassen sich in der Tat nur schwer in Emotionen übertragen. Wir Europäer können jedoch stolz auf die geleistete Arbeit sein. Wir haben ein System errichtet, das dauerhaften Frieden, politische Freiheit und sozialen Zusammenhalt wie nirgendwo sonst auf der Welt miteinander verbindet. 

Es gibt aber auch objektivere Gründe für die Zunahme der EU-Skepsis. Nach den Krisen von 2001 und 2008 hat es lange gedauert, bis wir ausreichend Solidarität gezeigt und die Situation wieder verbessert haben. Das hat dazu geführt, dass diese eigentlich von Dysfunktionen des amerikanischen Finanzwesens ausgehenden Krisen letztlich in Europa länger anhaltende Folgen hatten als in den Vereinigten Staaten. 

Europa hat ebenfalls viel Zeit gebraucht, bevor es sich zu Kontrollen von Missständen bei der Entsendung von Arbeitskräften oder zur Beschränkung übermäßigen Steuerwettbewerbs zwischen europäischen Ländern durchringen konnte. Inzwischen handelt die Union allerdings aktiver gegen diese Angriffe auf einen wirklich freien und echten Wettbewerb, sowohl auf sozial- als auch auf steuerpolitischer Ebene. 

Wie wir angesichts der COVID-19-Pandemie feststellen mussten, waren wir bisher ebenfalls nicht in der Lage, eine Deindustrialisierung zu stoppen, die uns in vielen Sektoren sehr abhängig macht. Und wir haben es nicht geschafft, Europa zu einer nennenswerten Macht im Bereich der für die Zukunft so entscheidenden Digitalwirtschaft zu machen. 

Die Bedeutung einer aktiveren Industriepolitik ist jedoch inzwischen allgemein anerkannt und wir haben bereits substanzielle Maßnahmen ergriffen, um unsere Unternehmen besser zu schützen und die Handelsbeziehungen mit unseren Partnern ausgeglichener zu gestalten. So enthält auch unsere Absicht, eine „strategische Autonomie“ Europas zu entwickeln, eine starke ökonomische Dimension. 

Die aktuelle Krise hat schließlich auch gezeigt, dass wir aus vergangenen Schwierigkeiten gelernt haben: die Mitgliedsstaaten, die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Europäische Rat haben diesmal schnell und deutlich reagiert. Wir haben die Eurozone widerstandsfähiger gemacht, auch wenn es noch aussteht, unserer gemeinsamen Währung eine stärkere internationale Bedeutung zu verleihen. 

Dank unserer Sozialsysteme, die im weltweiten Vergleich am weitesten entwickelt sind, war es möglich, die gesamte europäische Bevölkerung in der Gesundheitsversorgung abzudecken und zugleich die Einkommen und Arbeitsplätze der Europäer besser als andernorts zu sichern. 

Die Gesundheits- und Wirtschaftskrise hat allerdings die Länder der Union in sehr unterschiedlicher Weise getroffen. Und viele der am stärksten betroffenen Länder zählen auch zu denen, die bereits mit den härtesten Folgen der Krise von 2008 zu kämpfen hatten, und dadurch nur eingeschränkte Möglichkeiten hatten auf die COVID-19-Krise zu reagieren. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich die Unterschiede innerhalb der EU noch stärker ausprägen. 

Aus diesem Grund ist es entscheidend, die betreffenden Länder zu unterstützen. Genau das hat die Kommission mit der Initiative „Next Generation EU“ vorgeschlagen, die im vergangenen Juli vom Europäischen Rat beschlossen wurde. Auch wenn diese noch abschließend ausgearbeitet werden muss, lässt sich bereits sagen, dass sie wichtige Tabus bricht, indem sie der Union erlaubt gemeinsam Schulden aufzunehmen und den am stärksten betroffenen Ländern entscheidende Finanztransfers zukommen zu lassen – nicht nur in Form von Darlehen, sondern auch als direkte Zuschüsse. 

Auch wenn es weiterhin insbesondere in der Außenpolitik schwierig ist, dieses sehr vielgestaltige Europa zusammenzubringen, sind doch Fortschritte zu beobachten. In einer Welt, die mit Herausforderungen wie dem Klimawandel konfrontiert ist und von Mächten wie China, Indien oder den Vereinigten Staaten dominiert wird, sind sich die Europäer – davon bin ich überzeugt – immer stärker bewusst, dass sie nur mit vereinten Kräften überleben können. Und die COVID-19 Pandemie hat den Gedanken noch verstärkt, dass wir eine stärkere europäische Integration brauchen.

In einer Welt, die mit Herausforderungen wie dem Klimawandel konfrontiert ist und von Mächten wie China, Indien oder den Vereinigten Staaten dominiert wird, sind sich die Europäer – davon bin ich überzeugt – immer stärker bewusst, dass sie nur mit vereinten Kräften überleben können. Und die COVID-19 Pandemie hat den Gedanken noch verstärkt, dass wir eine stärkere europäische Integration brauchen. 

JOSEP BORRELL

Aus all diesen Gründen bin ich eher optimistisch in Bezug auf unsere Fähigkeiten, die EU-Skepsis zu überwinden. Die Stärkung unseres Zusammenhalts im Innern ist entscheidend für unsere Handlungsfähigkeit nach außen. 

Ein Neubeginn mit den Vereinigten Staaten

Die Ergebnisse der amerikanischen Präsidentschaftswahl sind ein weiterer Grund für vorsichtigen Optimismus. Die Beziehungen zwischen der Union und der neuen amerikanischen Regierung werden natürlich entscheidenden Einfluss auf die künftige europäische Außenpolitik haben. Nach vier schwierigen Jahren ist es Zeit für einen Neuanfang. 

Das heißt nicht, dass wir uns immer einig sein werden. Das war mit Donald Trump nicht der Fall und das wird auch unter Joe Biden nicht so sein. Dafür gibt es grundlegende Ursachen demographischer, wirtschaftlicher und politischer Natur, die zu unterschiedlichen historischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und Europa geführt haben. Aber wir haben mit den Vereinigten Staaten eine dauerhafte Partnerschaft, die auf gemeinsamen Werten und jahrzehntelanger Erfahrung in der Zusammenarbeit beruht. Und in den kommenden vier Jahren werden wir es mit einem Präsidenten zu tun haben, der an eine Partnerschaft mit demokratischen Verbündeten glaubt. Europa gedenkt, das bestmöglich für sich zu nutzen: Wir gehen nicht nur mit Forderungen, sondern auch mit Vorschlägen an die Biden-Präsidentschaft heran. 

Viele Dinge müssen repariert werden, und noch mehr sind zusammen aufzubauen. Als Hoher Vertreter habe ich mit der Europäischen Kommission im Dezember 2020 eine „neue transatlantische Agenda für den globalen Wandel“ vorgeschlagen, die zahlreiche Politikfelder umfasst. In diesem Text möchte ich mich auf drei Bereiche Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren.

Die Vereinigten Staaten bleiben für die europäische Sicherheit unverzichtbar. Gleichzeitig müssen wir uns als Europäer um unsere eigene Sicherheit kümmern. Deshalb wollen wir unsere Verteidigungsfähigkeiten stärken, indem wir einen größeren Teil der „Last“ tragen und die Fähigkeiten Europas für operative Einsätze insbesondere in unserer direkten Nachbarschaft ausbauen. 

Es wäre Zeitverschwendung, abstrakt über die Frage zu debattieren, ob wir uns für „europäischen Autonomie“ oder die „transatlantischen Partnerschaft“ entscheiden sollen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille: eine strategische und autonomere EU, stellt einen stärkeren Verbündeten für die Vereinigten Staaten dar. 

Im Bereich der europäischen Sicherheit werden wir insbesondere daran zusammenarbeiten müssen, um den gesamten westlichen Balkan in die euroatlantischen Strukturen zu integrieren, die Souveränität und die Reformen in der Ukraine zu unterstützen, eine robuste und kohärente Vorgehensweise gegenüber Russland zu entwickeln und um zu verhindern, dass die Türkei weiter „abdriftet“.

Es wäre Zeitverschwendung, abstrakt über die Frage zu debattieren, ob wir uns für „europäischen Autonomie“ oder die „transatlantischen Partnerschaft“ entscheiden sollen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille: eine strategische und autonomere EU, stellt einen stärkeren Verbündeten für die Vereinigten Staaten dar.

JOSEP BORRELL

Ich habe mich als Koordinator auch sehr dafür starkgemacht, das iranische Atomabkommen am Leben zu erhalten. Wir müssen jetzt zusammen mit der Biden-Administration einen Weg finden, die Vereinigten Staaten wieder einzubeziehen und den Iran erneut zur vollständigen Einhaltung der Vorschriften zu bewegen. Sobald dies erreicht ist, müssen wir bereit sein, darauf aufzubauen und weitere regionale Sicherheitsbelange anzugehen. Ich bin überzeugt, dass die einzige langfristige Lösung für die chronische Instabilität eine regionale ist.

Ganz besonders aber wird der Aufstieg Chinas und der daraus resultierende Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten die internationale Ordnung weiter prägen. Wir werden mit den USA viele der damit verbundenen Herausforderungen diskutieren und angehen müssen: von anhaltenden Asymmetrien beim Marktzugang über legitime Fragen zu 5G bis hin zu Versuchen, in multilateralen Organisationen auf konkurrierende Standards zu drängen oder gemeinsames Handeln in Menschenrechtsfragen zu erschweren. 

China: Partner, Konkurrent und Systemrivale

Die Wiederherstellung eines Gleichgewichts in unseren Beziehungen zu China ist von grundlegender Bedeutung für unsere Zukunft. Das ist allerdings nur zu erreichen, wenn die EU-Staaten eine einheitliche Front bilden und wir in vollem Umfang die Gemeinschaftsinstrumente ausschöpfen, insbesondere die Stärke unseres Binnenmarktes. Einigkeit ist in der Tat entscheidend in unseren Beziehungen zu Peking, denn kein europäisches Land ist in der Lage, seine Interessen und Werte gegenüber einem Land von der Größe Chinas allein durchzusetzen. Nur gemeinsam können wir dafür sorgen, dass Peking endlich seiner Zusage nachkommt, in seinen Beziehungen zur EU zu mehr „Gegenseitigkeit“ überzugehen.

Wirtschaftlich sind wir jedoch zu stark miteinander verflochten, um uns von China zu entkoppeln, wie es die Trump-Administration predigte. Einige Analysten sprechen von einem neuen Kalten Krieg, doch diese Analogie ist irreführend, da die Vereinigten Staaten, Europa und die Sowjetunion wirtschaftlich nie so stark miteinander verbunden waren, wie wir es heute mit China sind. Natürlich müssen wir unsere „strategische Autonomie“ in Bezug auf dieses Land im wirtschaftlichen Bereich weiterentwickeln, vor allem in der Digitalwirtschaft; aber auch wenn das Coronavirus die Globalisierung verändert, wird es sie nicht stoppen.

Ein neues Gleichgewicht zwischen der EU und China ist nach wie vor unerlässlich, auch um bedeutende globale Probleme anzugehen und zu lösen. Besonders offensichtlich wird dies im Kampf gegen den Klimawandel. Wir werden diesen nur dann eingrenzen können, wenn parallel zu unseren eigenen Anstrengungen die Hauptverursacher wie China, die USA und Indien nachziehen, und Afrika einen anderen Entwicklungsweg einschlägt, als wir ihn gegangen sind.

Die EU will daher in den notwendigen Bereichen, insbesondere beim Klimawandel, in der Kooperation mit China entschlossener auftreten. Diese Herangehensweise soll auch mit einer aktiveren Präsenz der EU in der Indopazifik-Region im weiteren Sinne verbunden sein, in Zusammenarbeit mit unseren demokratischen Partnern in Asien. In diesem Zusammenhang, haben wir kürzlich offiziell eine „strategischen Partnerschaft“ mit ASEAN eingegangen. 

Wir werden über diese Fragen mit der Biden-Administration diskutieren, wie wir es bereits in den letzten Monaten mit Staatssekretär Mike Pompeo im Rahmen des im Herbst 2020 lancierten EU-USA-Dialogs zum Thema China getan haben. 

Europa im Spannungsfeld neuer Imperien 

Der Machtzuwachs autoritärer Regime stellt eine der zentralen Bedrohungen für die Zukunft Europas und unsere demokratischen Werte dar. So teilen Länder wie Russland, China und die Türkei bei allen Unterschieden bestimmte Merkmale und verhalten sich in ihren Außenbeziehungen souveränistisch und sind nach innen autoritär geprägt. Sie bemühen sich um die Anerkennung ihrer geographischen Einflussbereiche und sind entschlossen, diese vor äußerer Prüfung zu schützen. Letztlich möchten sie die globalen Spielregeln ändern. 

In Demokratien beruht die Souveränität in erster Linie auf dem Ausdruck des Volkswillens, während der Souveränismus ausschließlich die Souveränität der Staaten hervorhebt. Das ist etwas ganz anderes. Souveränistische Staaten sträuben sich auch zunehmend gegen den Respekt grundlegender Menschenrechte. Sie versuchen, jede Form der internationalen Unterstützung zivilgesellschaftlicher Bewegungen für mehr Freiheit zu blockieren, etwa in Belarus, Hongkong oder Xinjiang. 

In Konflikten wie Bergkarabach, Libyen oder Syrien beobachten wir eine „Astanisierung“ (in Anlehnung an das Astana-Format zu Syrien), die zu einem Ausschluss Europas aus der Beilegung regionaler Konflikte und so zur Stärkung Russlands und der Türkei führt.

JOSEP BORRELL

Moskau nimmt für sich ein Kontrollrecht über Belarus in Anspruch und will die Europäer an ihrer Unterstützung der Proteste der Zivilgesellschaft gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen hindern. Dabei stehen sich in diesem Konflikt nicht Europa und Russland gegenüber, sondern das Volk und die Regierung in Belarus. 

Die Aktivitäten der Türkei im Mittelmeerraum zielen darauf ab, Ankara als wesentlichen Akteur zu etablieren, der weder bei der Aufteilung der Gasvorkommen noch bei einer politischen Lösung in Libyen ignoriert werden kann. Es ist selbstverständlich kein Zufall, dass die erste religiöse Zeremonie in der Hagia Sophia nach ihrer Rückumwandlung zur Moschee mit dem Jahrestag des Vertrags von Lausanne 1923 zusammenfiel, der für die Wiederherstellung der türkischen Souveränität nach der Demütigung des Vertrags von Sèvres stand. Die Türkei, Russland und China haben eins gemeinsam: Sie instrumentalisieren die Geschichte, um ihre Interessen nach imperialistischer Art voranzutreiben.

Wir können die geographischen Gegebenheiten nicht ändern und die Türkei wird weiterhin in vielen Fragen ein wichtiger Partner Europas sein. Deshalb wollen wir unter strikter Wahrung des Völkerrechts und der Rechte unserer Mitgliedsstaaten, gegebenenfalls auch mit Sanktionen, die gefährliche Konfrontationsspirale mit diesem großen Nachbarn so schnell wie möglich stoppen. Doch diese Perspektive hat nur einen Sinn, wenn sie von der Türkei geteilt wird. 

In Konflikten wie Bergkarabach, Libyen oder Syrien beobachten wir eine „Astanisierung“ (in Anlehnung an das Astana-Format zu Syrien), die zu einem Ausschluss Europas aus der Beilegung regionaler Konflikte und so zur Stärkung Russlands und der Türkei führt. Die Natur verabscheut die Leere: es besteht die Gefahr, dass wir bald der Errichtung russischer und türkischer Militärbasen in Libyen zusehen müssen, wenige Kilometer von unseren Küsten entfernt. 

Um aus dieser Situation herauszukommen und eine friedliche Lösung der Konflikte mit diesen neuen Imperien finden zu können, deren grundlegende Werte wir nicht teilen, müssen wir weiterhin unsere Defizite bei den gemeinsamen Verteidigungsfähigkeiten ausgleichen. Diesen Preis müssen wir zahlen, um das „geopolitische Europa“ entstehen zu lassen, das Präsidentin von der Leyen und die Europäische Kommission gefordert haben. 

Unsere Verantwortung gegenüber Schwellen- und Entwicklungsländern 

Über unsere direkte Umgebung hinaus muss Europa ebenfalls dazu beitragen, die reichsten Länder zu mobilisieren, um die ärmsten Länder bei der Bewältigung der aktuellen Krise zu unterstützen. Das ist nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern liegt auch in unserem wohlverstandenen eigenen Interesse: Wenn es den Europäern gelingt, die Krise zu überwinden, aber der Rest der Welt erheblich destabilisiert wird, führt das zwangsläufig auch in Europa zu Instabilität.

Wir sind mit der schlimmsten Rezession seit der Weltwirtschaftskrise konfrontiert. Die Industrieländer wurden von der COVID-19-Pandemie schwer getroffen, aber die Entwicklungs- und Schwellenländer haben deutlich geringere Haushaltsspielräume und einen viel schwierigeren Zugang zu Finanzmitteln, um die Folgen zu bewältigen.

Lateinamerika befürchtet ein weiteres verlorenes Jahrzehnt, Afrikas Aufschwung ist schlagartig ins Stocken geraten, Südasien befindet sich in großen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten. Die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen dürfte erstmals seit Jahrzehnten wieder steigen, und zwar um 90 Millionen weltweit. 

Die im April 2020 von den G20 lancierte Initiative für ein Schuldendienst-Moratorium hat den am stärksten verschuldeten armen Ländern eine Atempause verschafft. Doch offensichtlich reicht das nicht aus. Argentinien ist im Mai erneut mit seinen Auslandsschulden in Zahlungsverzug geraten, Sambia am 13. November, was die Risiken einer Spirale von Staatsausfällen insbesondere in Afrika erhöht und zu einer neuen globalen Finanzkrise führen könnte.

Auf Antrag der EU und ihrer Mitgliedsstaaten haben die G20-Mitglieder im November zusätzliche Maßnahmen beschlossen. Sie haben die Aussetzung des Schuldendienstes bis Juni 2021 ausgedehnt, mit der Möglichkeit einer anschließenden Verlängerung um weitere sechs Monate. Die G20 und der Pariser Club haben sich ebenfalls auf einen neuen gemeinsamen Rahmen zur Schuldenerleichterung geeinigt.

In den vergangenen Jahren ist China zu einem der wichtigsten Gläubiger zahlreicher Entwicklungsländer geworden, insbesondere in Afrika. Das Land gehört nicht zum Pariser Club und hat bislang in der Schuldenfrage kaum die Initiative ergriffen. Allerdings hat China die neuen G20-Prinzipien akzeptiert, was einen wichtigen Fortschritt darstellt. Wir setzen jetzt darauf, dass alle Partner in diesem Bereich die gleiche Motivation und das gleiche Engagement aufbringen.

In den vergangenen Jahren ist China zu einem der wichtigsten Gläubiger zahlreicher Entwicklungsländer geworden, insbesondere in Afrika. Das Land gehört nicht zum Pariser Club und hat bislang in der Schuldenfrage kaum die Initiative ergriffen. Allerdings hat China die neuen G20-Prinzipien akzeptiert, was einen wichtigen Fortschritt darstellt.

JOSEP BORRELL

Aber wir würden gerne noch weitergehen: Die EU spricht sich dafür aus, den von der G20 beschlossenen Rahmen für die Schulden armer Länder auf Länder mit mittlerem Einkommen auszudehnen, sofern sie entsprechenden Bedarf haben. Wir setzen uns außerdem für eine neue allgemeine Zuteilung von Sonderziehungsrechten (SZR) ein, einer vom IWF ausgegebenen internationalen Währung, um den durch die Krise entstandenen Bedarf zu decken.

Damit die Union in dieser entscheidenden Frage Einfluss ausüben kann, müssen wir auch verstärkt als echtes „Team Europa“ handeln, um die besonderen Trümpfe der einzelnen Mitgliedstaaten und der Union gemeinsam zu nutzen, wie wir es seit dem letzten Frühjahr als Reaktion auf die Pandemie begonnen haben. 

Um zu verhindern, dass sich die Kluft durch die aktuelle Krise vergrößert, ist es außerdem entscheidend, eine grüne und inklusive Zukunft für alle sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass jeder auf der digitalen Welle reiten kann. In dieser Hinsicht ist der Aufruf der Präsidentin von der Leyen für eine weltweite Initiative entscheidend, der Schuldenerleichterung mit Investitionen in diesem Bereich verknüpft.

Die Art und Weise, wie wir uns trotz unserer großen internen Schwierigkeiten der Hilfe für krisengeschüttelte Schwellen- und Entwicklungsländer widmen, wird einen entscheidenden Einfluss auf die Rolle Europas in der Welt und insbesondere auf unsere Beziehungen zu Afrika haben. China, die Vereinigten Staaten oder Europa: Diejenigen, die sich in diesem Bereich besonders aktiv zeigen, werden wichtige Punkte für die Zeit nach der Krise sammeln.

Der COVID-19-Impfstoff sollte ein globales öffentliches Gut werden

Das andere große Thema, dem wir uns zuwenden müssen, wenn wir einen Rückschritt und eine Verschärfung der globalen Ungleichheiten vermeiden wollen, betrifft die Impfung gegen COVID-19. Nach mehreren schwierigen Monaten sehen wir endlich etwas Licht am Ende des Tunnels.

Doch die Entwicklung eines Impfstoffs ist nur eine Sache, seine Produktion und Verteilung eine andere. Das stellt bereits für die EU eine Herausforderung dar, noch schwieriger aber ist es, auch entlegene Dörfer in Niger, Peru oder Kiribati zu erreichen. Daher müssen wir bereits jetzt die nötigen Ressourcen vorbereiten, damit die Impfstoffe, sobald sie zur Verfügung stehen, schnell und sicher verteilt werden können. 

Wir müssen einen „Impfstoff-Nationalismus“ verhindern, der dazu führen würde, dass nur die mächtigsten und reichsten Länder in der Lage wären, ihre jeweilige Bevölkerung zu impfen. Außerdem gilt es, eine „Impfstoff-Diplomatie“ zu vermeiden, die versuchen könnte, den Zugang zu Impfstoffen von einer politischen Bindung an ein bestimmtes Land abhängig zu machen. Schon seit dem Beginn dieser Pandemie hat sich die Europäische Union für Multilateralismus und Kooperation statt Nationalismus und Konkurrenzprinzip eingesetzt. 

Wir treten dafür ein, dass die Impfstoffe gegen COVID-19 als globales öffentliches Gut angesehen und gleichberechtigt allein nach medizinischen Notwendigkeiten verteilt werden. Daher haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten insgesamt 870 Millionen Euro für die Unterstützung der internationalen COVAX-Initiative aufgebracht, die allen Staaten einen Zugang zu Impfstoffen ermöglichen soll. Nach der Bewältigung dieser Pandemie werden wir die Weltgesundheitsorganisation reformieren und sie mit den nötigen Mitteln und Instrumenten für die Bewältigung der gesundheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausstatten müssen.

Die Zukunft der Europäer wird zu einem großen Teil von unserer Fähigkeit abhängen, den Kontinent aus der COVID-19-Krise herauszuführen und gleichzeitig seine Rolle und sein Gewicht in der Welt zu stärken. 

JOSEP BORRELL

Den Multilateralismus wiederaufbauen und stärken 

Wir haben es schon oft gesagt: Europa muss allein handeln, wenn es nötig ist, aber gemeinsam mit anderen wenn dies möglich ist. Dazu muss es uns gelingen, einem stark in Mitleidenschaft gezogenen Multilateralismus neue Dynamik zu verleihen: bei dem Versuch, diesen mit großer Anstrengung aufrecht zu erhalten, hat sich Europa in den letzten Jahren oft ein wenig allein gelassen gefühlt. 

Die Leistungsfähigkeit des multilateralen Systems und seiner Institutionen wird vielfach infrage gestellt. Oft völlig zu Recht. Vom Klimawandel über Menschenrechte und Handelsbeziehungen bis hin zu Rüstungskontrolle oder Seeverkehrssicherheit wurde die globale Zusammenarbeit geschwächt, internationale Abkommen wurden aufgegeben und das Völkerrecht untergraben oder nur selektiv angewendet. Die Machtverteilung entspricht in mehreren Institutionen nicht mehr den tatsächlichen Entwicklungen der Welt in den letzten Jahrzehnten. Ein großer Teil der von uns aufgebauten multilateralen Institutionen muss überprüft und reformiert werden. 

Bedeutet das nun, dass wir mit der Vergangenheit vollkommen abschließen müssen? Ich denke nicht. Der Multilateralismus der Nachkriegszeit hat trotz seiner zahlreichen Schwächen auch viele Ergebnisse hervorgebracht. Und der Aufbau eines vollkommen neuen Systems nähme zu viel Zeit in Anspruch, zumal in immer mehr Situationen dringender Handlungsbedarf besteht. Wir müssen uns auf das Bestehende stützen, um die nächsten Schritte einzuleiten. Es ist höchste Zeit, um es im Stil von Trump zu sagen: „Make multilateralism great again“. 

Zu diesem Zweck ist Europa gefordert, andere Demokratien zu mobilisieren, damit die grundlegenden Menschenrechte und demokratischen Werte auf der internationalen Bühne besser verteidigt und gefördert werden können. Ob in Hongkong, im Sudan oder in Belarus: Die Ereignisse der letzten Monate haben bewiesen – falls das noch nötig war – wie universell Bestrebungen für Demokratie weiterhin sind und wie sehr sich ihrer Rechte beraubte Menschen auf allen Kontinenten danach sehnen. Eine Voraussetzung ist natürlich die Wiederaufnahme des Dialogs mit den Vereinigten Staaten zu diesem Thema, aber auch eine engere Zusammenarbeit mit Japan, Südkorea, Kanada, Mexiko und Australien.

Die Aufgabe ist also gewaltig, aber wir müssen uns ihr stellen: Die Zukunft der Europäer wird zu einem großen Teil von unserer Fähigkeit abhängen, den Kontinent aus der COVID-19-Krise herauszuführen und gleichzeitig seine Rolle und sein Gewicht in der Welt zu stärken.