Im Vorfeld der deutschen Bundestagswahlen am 23. Februar 2025 hat das französische Meinungsforschungsinstitut Cluster 17 mehrere Studien durchgeführt, um die wichtigsten Konfliktlinien und die Strukturierung der deutschen Wählerschaft in Wertecluster zu verstehen. Der Artikel präsentiert die Ergebnisse der Wahltagsbefragung “jour de votes” bei der Europawahl im Juni vergangenen Jahres und der jüngsten Abfrage der Wahlabsichten, die zwischen dem 16. und 18. Februar 2025 im Rahmen der Studie in der Serie “intentions de vote” durchgeführt wurde.
Die Europawahl am 9. Juni 2024 stand in Deutschland im Zeichen einer starken Ablehnung der Parteien der regierenden “Ampelkoalition” von Bündnis 90/ Die Grünen, SPD (rot) und FDP (gelb). Die beiden letztgenannten Parteien erlitten einen beträchtlichen Stimmenverlust im Vergleich zu den Bundestagswahlen 2021: Die FDP fiel von 11,5 % auf 5,2 % und verlor damit mehr als die Hälfte ihrer Wählerstimmen. Der Rückgang der SPD von 25,7 % auf 13,9 % war ähnlich beeindruckend. Im Vergleich dazu fiel der Stimmenverlust der Grünen mit „nur“ 2,9 Prozentpunkten von 14,8 % auf 11,9 % etwas geringer aus. In Summe kam die Ampelkoalition, die bei ihrem Amtsantritt am 8. Dezember 2021 für sich beanspruchen konnte, 52 % der Wählerschaft zu repräsentieren, am Abend des 9. Juni 2024 nur noch auf 31%.
Wie wir im Folgenden sehen werden, war diese Abwahl wohl unvermeidlich. Denn die Erwartungen der Wählerschaft der verschiedenen Koalitionsparteien, insbesondere der Grünen und der FDP, waren nicht nur nicht kompatibel, sondern in Teilen sogar völlig entgegengesetzt, und zwar entlang deutlich erkennbarer Konfliktlinien. Immer wieder hat sich die Koalition in Schlüsselbereichen ihres Koalitionsprogramms und ihrer Politik überworfen und gespalten, was zweifellos dazu beigetragen hat, ihre Unpopularität noch weiter zu steigern: Energiewende, Sozialpolitik, Haushaltsdefizite… Letztlich waren es Differenzen in der Haushaltspolitik, die am 6. November zum Rücktritt des Finanzministers, des FDP-Politikers Christian Lindner, führten und damit das Ende der Koalition besiegelten. In der Folge wurde der Zeitplan für die Wahlen beschleunigt und die Parlamentswahlen auf den 23. Februar 2025 vorgezogen, also sieben Monate vor dem von der Verfassung vorgesehenen Mandatsende.
Endgültiges Ende des „unvollkommenen Zweiparteiensystems“ deutscher Art?
Die Umfragen deuten darauf hin, dass die Bundestagswahl am kommenden Sonntag die Tendenzen der letzten Europaparlamentswahl bestätigen wird, wenn nicht gar verstärken. An dieser Stelle stützen wir uns auf zwei Befragungen des Instituts Cluster 17: eine Umfrage am Wahltag am 9. Juni 2024 mit einer repräsentativen Stichprobe von 802 Wählern, und eine Umfrage zur Wahlabsicht, die zwischen dem 16. und dem 18. Februar 2025 mit einer repräsentativen Stichprobe von 1457 Wählern durchgeführt wurde.
Gewiss lassen sich Wahlergebnisse immer auf verschiedene Weisen lesen und interpretieren. Der Aufschwung der Christdemokraten bei der Europawahl (plus 5,9 Prozentpunkte im Vergleich zur Bundestagswahl 2021) dürfte sich am kommenden Sonntag fortsetzen. Unsere jüngste Umfrage zur Wahlabsicht, die zwischen dem 16. und 18. Februar durchgeführt wurde, sieht die CDU/CSU bei 30 %, was ziemlich genau dem Ergebnis bei der letzten Europawahl entsprechen würde. Da die CDU/CSU mit einem solchen Ergebnis stärkste Partei wäre und ihr Vorsitzender, der liberal-konservative Friedrich Merz, das Amt des Bundeskanzlers für sich beanspruchen könnte, wird es sicherlich als „Erfolg“ gedeutet werden. Doch aus einer Längsschnittperspektive betrachtet, wäre dieses Ergebnis, angenommen es wiederholt sich am Sonntag an den Wahlurnen, eigentlich als Bestätigung des stetigen und kontinuierlichen Rückgangs der Christdemokratie in Deutschland zu interpretieren. Denn abgesehen vom katastrophalen Ergebnis im Jahr 2021 (24,1%), wären 30% der Christdemokraten schlichtweg das schlechteste Bundestagswahlergebnis seit 1949.
Zum Vergleich sei hier daran erinnert, dass die CDU/CSU zwischen den 1950er und 1980er Jahren regelmäßig fast die Hälfte der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte und am Vorabend der Wiedervereinigung noch fast vier von zehn Wählern für sie stimmten. Vor etwas mehr als zehn Jahren, bei den Bundestagswahlen 2013, konnte die Union noch 41,5 % der Wähler mobilisieren. Obwohl das politische Umfeld für sie besonders günstig ist, da sie in Opposition zu einer unpopulären Koalition steht und ihr historischer Gegenspieler, die SPD, am Boden liegt, dürfte sie am 23. Februar nicht viel mehr als drei von zehn Wählern gewinnen können, was den Abwärtstrend bestätigen würde, in dem sie sich seit fast vier Jahrzehnten befindet (siehe Abbildung 1).
Sofern es am Wahltag keine Überraschung gibt, dürfte die Abstimmung am kommenden Sonntag bestätigen, dass die Ära des „Zweieinhalbparteiensystems“ nur noch eine ferne Erinnerung ist.
Die SPD als zweite große Säule der bundesdeutschen Demokratie befindet sich ebenfalls in einem Abwärtstrend, der noch ausgeprägter ist als bei den Christdemokraten. Am kommenden Sonntag könnte ihr dies ein historisch schlechtes Ergebnis bescheren: knapp 15% der Stimmen.
Die deutsche Sozialdemokratie hatte bereits seit den 2000er Jahren, als ihr Wählerpotenzial innerhalb weniger Jahre von rund 40% auf 25% der Stimmen sank, einen starken Einbruch erlebt. Sollte sich nun allerdings das Ergebnis der Europawahlen bestätigen – so wie es die meisten Umfragen vorhersagen, die der SPD rund 15% der Stimmen prognostizieren – hätten die Bundestagswahlen 2025 eine wahrlich historische Dimension, da die SPD zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg (deutlich) unter 20% der Stimmen liegen würde.
Sofern es am Wahltag keine Überraschung gibt, dürfte die Abstimmung am kommenden Sonntag bestätigen, dass die Ära des „Zweieinhalbparteiensystems“, wie Klaus von Beyme es nannte, nur noch eine sehr ferne Erinnerung ist. Damit war ein politisches System gemeint, in dem sich zwei dominierende Kräfte – die SPD und die CDU/CSU – an der Macht abwechseln, unterstützt von der FDP als kleiner „Drehscheibe”. Dieses System prägte Deutschland (bzw. die BRD) beinahe ununterbrochen bis 2005, d.h. fast 60 Jahre lang (mit Ausnahme des Zeitraums 1966-1969). Seit den 2000er Jahren machte der zeitgleiche Rückgang der Wahlergebnisse von CDU/CSU und SPD eine neue politische Formel erforderlich: die “Große Koalition”, in der die beiden großen politischen Kräfte, bis dahin Rivalen und Konkurrenten, in einer Regierung zusammenkamen. Drei der vier Regierungen, die Angela Merkel zwischen 2005 und 2021 anführte, waren Koalitionsregierungen aus Union und SPD. Olaf Scholz, der derzeitige Bundeskanzler und SPD-Kandidat für die Bundestagswahl, war bereits Vizekanzler in der letzten Regierung unter Angela Merkel zwischen 2018 und 2021.
Nun deuten die Ergebnisse der letzten Europawahl ebenso wie die aktuellen Umfragen darauf hin, dass es CDU/CSU und SPD zum zweiten Mal in Folge nicht gelingen könnte, gemeinsam die Hälfte der Wählerstimmen zu erreichen.
Vom Ende der 1950er Jahre bis Ende der 1980er Jahre konnten diese beiden Parteien mehr als 80% der Stimmen auf sich vereinen (bis zu 9 von 10 Wählern in den 1970er Jahren, vgl. Abbildung 3). Selbst wenn Korrelation bekanntermaßen keine Kausalität bedeutet, ist es doch auffällig, dass das Modell der “Großen Koalitionen” die Beschleunigung eines Abwärtstrends nach sich gezogen hat und damit eine weitere Reduktion der Wählerschaft der beiden historischen Kräfte, die ab Ende der 2000er Jahre kaum noch die Hälfte der Wähler mobilisieren konnten (mit Ausnahme der Bundestagswahlen 2013, die ein exzellentes Ergebnis für die CDU/CSU einfuhren).
In einem proportionalen Repräsentationssystem ist die Folge dieser Entwicklung, dass die Bedingungen einer “Großen Koalition” heutzutage nicht mehr gegeben sind. Ohne Zugewinne der CDU/CSU und/oder der SPD auf der Wahlkampfzielgerade, ist es heute unwahrscheinlich, dass die beiden politischen Kräfte über eine ausreichende Abgeordnetenzahl verfügen werden, um jene Formel, die Angela Merkels Regierungszeit prägte, zu reproduzieren. Mit Blick darauf ist zudem festzustellen, dass sich die dritte historische politische Kraft der bundesdeutschen Demokratie, die FDP, in einer besonders schwierigen Position befindet: Nachdem sie in den letzten Europawahlen nur knapp die 5%-Hürde überwunden hat (5,2%), ist es laut unserer letzten Umfrage nicht sicher, ob sie diese Marke diesmal erreichen wird. Unterhalb der 5% hat eine Partei keinen Zugang zur parlamentarischen Vertretung, es sei denn es gelingt ihr, in mindestens drei Wahlkreisen Direktmandate zu erzielen.
Die Bedingungen einer “Großen Koalition” sind heutzutage nicht mehr gegeben.
Diese Beobachtung zeigt, wie sehr sich das politische System Deutschlands im Wandel befindet, und vor allem, so wie in der Mehrheit der großen Demokratien, in einem Prozess der Fragmentierung. Im linken Lager war dieser Prozess bereits weit fortgeschritten, seit sich in den 1980er Jahren eine ökologische Partei (Die Grünen) formierte, die Ende der 2000er Jahre 10% der Stimmen erhielt, ebenso wie eine radikale Linke (Die Linke), die vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise von 2008 in der Bundestagswahl 2009 bis zu 11,9% der Stimmen erhielt. Diese Fragmentierung der Linken erklärt zu großen Teilen den oben beschriebenen Abwärtstrend der SPD, der sich da besonders deutlich zeigt, wo Die Linke und die Grünen sich der 10-Prozent-Marke nähern oder diese überschreiten. Die letzte Europawahl und die aktuellen Umfragen markieren einen weiteren Schritt in dieser Entwicklung, wenngleich es noch viel zu früh ist, um festzustellen, ob sie konjunkturell bedingt oder im Gegenteil dauerhaft ist. Dieser Trend ist vor allem auf die Gründung des BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit) zurückzuführen. Das BSW entstand aus einer Teilung der Partei Die Linke ausgelöst durch Sahra Wagenknecht, die der neuen Organisation ihren Namen gibt, ein Sonderfall in einem deutschen Politiksystem, das deutlich weniger personalisiert ist als in anderen europäischen Demokratien. Die Abtrünnigen warfen der Linken vor, eine Partei der urbanen “Yuppies” geworden zu sein und sich zu Lasten der sozialen Frage zu sehr auf gesellschaftliche Progressivismus fokussiert hätten. Mit einem Sozialprogramm, “Wokismus”-Kritik, der Forderung nach Einwanderungskontrollen und der Ablehnung der „militärischen Eskalation“ in der Ukraine sollte das neue politische Angebot besser auf die Anforderungen der Arbeiterschaft zugeschnitten sein und dieses Wählersegment den Rechten, insbesondere der AfD (Alternative für Deutschland), streitig zu machen. Wie wir sehen werden, erweist sich diese politische Wette bislang eher als Misserfolg. In den letzten Europawahlen hat das BSW 6,2% erzielt und damit Die Linke, der sie einige Wähler abspenstig machen konnte, überholt.
So zeigt sich die deutsche Linke angesichts der nahenden Wahl besonders fragmentiert und ohne dominante Kraft. Die SPD und die Grünen sind Kopf an Kopf mit 15% und 13% in unserer Umfrage von Ende Januar. Die Linke scheint von einer starken Dynamik gegen Endes des Wahlkampfs zu profitieren: Während sie in den Stimmabsichten Ende Januar noch bei 3% lag, stieg sie zwei Wochen später auf 7% (vgl. Tab. 2). Für das BSW ist noch nicht sicher, ob es die 5%-Hürde erreichen wird, die ihm eine Vertretung im Bundestag erlaubt. Doch addiert man seine 4% zu den 7% der Linken, zeigt sich, dass es einen disruptiven und konsequent radikalen Raum links der Mitte gibt.
Innerhalb des konservativen Raums ist die Veränderung der Kräfteverhältnisse offensichtlich dem Aufstieg der AfD zuzuschreiben. Diese 2013 gegründete euroskeptische und extrem konservative Partei konnte schon bei den Bundestagswahlen 2017 einen ersten Wahlerfolg verzeichnen: 12,6 % der Stimmen. Nach einer Phase relativer Stagnation war ihr Stimmenzuwachs in den letzten Wahlen mit einem Europawahlergebnis von 15,9% beträchtlich. Vor allem scheint die AfD in einem Wahlkampf, der von den Anschlägen in Magdeburg und München, den Kontroversen um Einwanderung und der Unsicherheit über die Zukunft des Industriestandorts Deutschland, speziell der Automobilbranche, geprägt ist, von der Wahlkampfdynamik zu profitieren, mit dem Ergebnis, dass sie die 20-Prozent-Marke erreichen oder sogar überschreiten könnte (das wäre eine Verdoppelung ihres Ergebnisses von 2021). Solch ein Resultat würde eine weitere Fragmentierung des politischen Systems bedeuten, vor dem Hintergrund einer Polarisierung der Wählerschaft.
Im Angesicht der Wahl zeigt sich die deutsche Linke besonders fragmentiert und ohne dominante Kraft.
Der Vormarsch der AFD begrenzt den Aufschwung der CDU und gefährdet die FPD
Die Auswertung der Stimmenwanderung seit der Bundestagswahl 2021 bietet einen Einblick in die aktuelle Entwicklung. Zunächst erlaubt sie zu verstehen, was den Aufschwung der CDU/CSU begrenzt, und vor allem warum sie sich nicht auf dem Niveau der 2000er Jahre, ganz zu schweigen von der Bundestagswahl 2013, in der sie 41,5% der Stimmen erzielte, wiederfindet.
Die CDU/CSU gewinnt vor allem in der Wählerschaft der FDP, von der sie etwa ein Drittel der Wähler von 2021 zurückgewinnt (vereinfacht gesagt: etwa 4 Prozentpunkte), der SPD (12 %, etwa 3 Prozentpunkte) und der Grünen (11 %, etwa 1,5 Prozentpunkte). Diese Stimmengewinne werden jedoch nicht ausreichen, um der Union ein höheres Ergebnis zu garantieren, da es ihr nicht gelingt, ihre eigene Wählerschaft von 2021 an sich zu binden (Tab. 4.). Unsere Umfrage zeigt, dass mehr als ein Viertel der CDU/CSU-Wähler bei den letzten Bundestagswahlen (29%) nicht vorhaben, sie dieses Mal wieder zu wählen. Mehr als die Hälfte davon plant stattdessen die AFD zu wählen. Diese geringe Loyalität der Wähler von 2021 ist ein Indikator für eine schwache Wahlkampf-Dynamik und muss als umso enttäuschender für die Christdemokraten angesehen werden, als sie seit fast vier Jahren in der Opposition sind. Wie wir im Weiteren sehen werden, ist der Verlust eines Teils ihrer Wähler an die AFD Teil einer Polarisierungslogik innerhalb der konservativsten Segmente der Wählerschaft.
In der Linken sind verschiedene Tendenzen hervorzuheben. Erstens zeigt sich im linken Spektrum eine starke Instabilität der Wählerschaft: nur den Grünen gelingt es, mehr als die Hälfte ihrer Wähler von 2021 an sich zu binden: 61% (Tab. 4). Die anderen Parteien links der Mitte unterscheiden sich durch beeindruckende Verluste: die SPD behält weniger als die Hälfte ihrer Wähler von 2021 (47%) ähnlich wie die Linke (44%), die die Spaltung durch Sahra Wagenknecht verkraften muss. Diese Zahlen sind Ausdruck zweier unterschiedlicher Entwicklungen. Erstens wird ein erheblicher Teil der Wähler, die 2021 für die Linke gestimmt haben, zu den Mitte-Rechts- und Rechtsparteien abwandern, insbesondere zur CDU/CSU und in geringerem Maße auch zur AfD. Diese Wählerwanderung zeigt sich darin, dass der aufsummierte Stimmenanteil der drei linken Parteien (SPD, Die Grünen, Die Linke) von 45,4 % der auf 35 % sinken könnte (39 %, wenn man das BSW zur Linken hinzuzählt).
Zweitens zeigt sich eine ausgeprägte innerlinke Fluktuation, so wie sie bereits in Frankreich oder Spanien zu beobachten war. Von den Grünen-Wählern der Bundestagswahl 2021 wird dieses Mal fast ein Fünftel für die SPD oder Die Linke stimmen (Tab. 4). Ähnlich hoch ist der Anteil der SPD-Wähler, die offenbar bereit sind, für eine andere linke Partei zu stimmen (21%). Innerhalb der Wählerschaft der Partei Die Linke ist diese innerlinke Fluktuation noch deutlicher, teilweise bedingt durch die Abspaltung des BSW. Bezieht man Sahra Wagenknechts Bewegung mit ein, könnte fast die Hälfte der Linken-Wähler 2021 (46%) 2025 für eine andere linke Partei stimmen. Diese Fluktuation ist ein seit längerem zu beobachtendes Strukturmerkmal, das sich bereits im Wahlkampf 2021 deutlich bemerkbar machte. Damals waren die Bewegungen innerhalb der Linken wirklich spektakulär: Umfragen im Juni 2021 prognostizierten den Grünen einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten vor der SPD, am Wahltag landeten sie schließlich 10 Prozentpunkte hinter den Sozialdemokraten. Unsere Umfragen bestätigen die anhaltende Intensität des Wettbewerbs innerhalb der Linken. Auffällig ist, dass seit der Europawahl 2024 immer noch signifikante innerlinke Bewegungen messbar sind (siehe Tab 5). In prognostischer Hinsicht bedeuten diese, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen linken Parteien in den letzten Tagen des Wahlkampfes noch verändern können, wobei die Fortschritte der einen zwangsläufig auf Kosten der anderen gehen würden. Für die kleineren Parteien wie Die Linke oder das BSW geht es darum, ob sie im Bundestag vertreten sein werden oder nicht. Schließlich gingen die Gewinne der Linken in den letzten Wochen im starken Wettbewerb um dieselben Segmente der Wählerschaft auf Kosten des BSW (Tab.5).
Der Aufschwung der AfD bringt eine doppelte Dynamik mit sich. Im Gegensatz zu den anderen politischen Spielern gelingt es ihr anscheinend, einen bemerkenswerten Anteil ihrer Wähler von 2021 an sich zu binden: 88% von ihnen wollen kommenden Sonntag erneut AfD wählen (Tab.4). Dieser Grad an Loyalität ist ein Indikator für die Aufwärtsdynamik, von der die extreme Rechte in Deutschland profitiert. Ein weiterer entscheidender Faktor wird natürlich sein, ob es der AfD gelingt, einen relevanten Anteil der Wähler zu mobilisieren, die 2021 für andere Parteien gestimmt haben. Ihr Einzugsgebiet ist besonders interessant zu beobachten. Die AfD überzeugt nur in geringem Maße Wähler, die 2021 für Die Linke, die SPD und vor allem Die Grünen gestimmt haben (Tab. 4), was der Polarisierungslogik der Wählerschaft entspricht. Andererseits mobilisiert sie zu ähnlichen Anteilen frühere Wähler von FDP (19%) und Union (15%). Das gibt einen Hinweis auf die Radikalisierung des konservativen Wählerspektrums in Deutschland nach rechts. Somit trägt die AFD zu einer deutlichen Verringerung des Möglichkeitsraums der Mitte-Rechts und rechten Regierungsparteien bei, indem sie ihren Einfluss innerhalb der konservativsten Teile der Wählerschaft verringert.
Die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen linken Parteien können sich in den letzten Tagen des Wahlkampfes noch verändern.
Schließlich zeigen Stimmwanderungstabellen, welche Wählerströme den Aufstieg des BSW ermöglicht haben. Diese Bewegung, die eine strategische Repositionierung der Linken vorschlägt, indem sie die soziale Frage mit Positionen zu Sicherheit, Ordnung und Migration verbindet, die üblicherweise mit der Rechten assoziiert werden, und zugleich Abstand zum Progressivismus hält, weckt eine gewisse Neugier. Unsere jüngste Umfrage deutet – vorbehaltlich der Bestätigung an den Wahlurnen – darauf hin, dass der Durchbruch der BSW sehr begrenzt bleiben dürfte, da die Bewegung von Sahra Wagenknecht derzeit nicht einmal sicher sein kann, die 5%-Hürde zu erreichen und im Parlament vertreten zu sein. Vor allem aber deutet die Herkunft ihrer Stimmen darauf hin, dass es der Bewegung nicht gelungen ist, signifikant aus der Wählerschaft der Rechten und insbesondere der AFD zu rekrutieren: Nur ein marginaler Anteil der CDU/CSU- und AFD-Wähler von 2021 (2 %) beabsichtigt, am Sonntag BSW zu wählen. In der Realität besteht ein Großteil des Wählerpotenzials des BSWs in ehemaligen Wählern der Partei Die Linke. Mit anderen Worten: BSW hat den Wählerkreis der Linken bislang nicht wirklich erweitert, sondern stattdessen zu einer Verschärfung der Zersplitterung dieses politischen Raums beigetragen.
Die Positionierung der Wähler zu den großen Konfliktthemen
In diesen Kräfteverhältnissen und Verschiebungen manifestiert sich im Wahlraum eine polarisierte Gesellschaft, die in Bezug auf viele relevante Fragen gespalten ist. Und zweifellos nimmt diese Polarisierung zu, wenngleich unsere Studien sich nur auf einen kurzen Zeitraum beziehen und es nicht erlauben, eine solche Entwicklung mit empirischer Gewissheit zu überprüfen. Es ist dieser relativ hohe Polarisierungsgrad, der den langfristigen Rückgang der beiden großen historischen Kräfte SPD und CDU/CSU (sowie ihren Versuch, sich durch eine „Radikalisierung“ ihrer Positionen in diesem Wahlkampf wahltaktisch zu halten), den starken Anstieg der AfD und ihre Fähigkeit, die öffentliche Debatte zu besetzen, den Zusammenbruch der FDP, aber auch die internen Neuformierungen der Linken und die relative Widerstandsfähigkeit der Grünen und sogar der radikalen Linken gegenüber der SPD erklärt.
Um die Art und Weise, in der sich der Wahlraum in Deutschland strukturiert zu verstehen, und die zu beobachtenden Dynamiken zu interpretieren, haben wir denselben Ansatz gewählt, den wir für Wahlanalysen in Frankreich, Italien, Spanien und Belgien angewandt haben.
Analog zum Vorgehen für diese Länder haben wir einen Segmentierungstest entwickelt, der auf 30 gezielt stark spaltenden Frageitems beruht, die es ermöglichen, die Hauptgruppen (Cluster) zu identifizieren, aus denen sich die Wählerschaft zusammensetzt. Die methodologische Prämisse, auf der dieser Ansatz beruht, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Position der Bürger relativ zu den großen Spaltungslinien, die eine Gesellschaft durchziehen, ist der ausschlaggebendste Faktor für ihre Wahlentscheidung. Folglich sind die Positionen zu so wichtigen und kontroversen Themen wie Frauenrechte, LGBT-Rechte, Aufnahme von Migranten, Verhältnis zu Ausländern oder zum Islam, ökologische Maßnahmen, Sozialleistungen, Verhältnis zu den politischen Eliten, zur Europäischen Union, Aufteilung des Wohlstands, Todesstrafe usw. in hohem Maße prädiktiv für die politischen Präferenzen von Einzelpersonen. In der Regel sind diese Positionen mittelfristig stabil: Man wechselt nicht während eines Wahlkampfes von einer strikt migrationsfeindlichen zu einer migrationsfreundlichen Position, ebenso wenig wie man innerhalb so eines kurzen Zeitraums von einer abtreibungsfeindlichen zu einer abtreibungsbefürwortenden Position wechselt. Noch entscheidender ist, dass diese Positionen zumeist Ausdruck tief verwurzelter Einstellungen sind, die eng mit sozialen Identitäten verknüpft und deshalb sehr stabil sind.
Unser Ansatz zielt nicht nur darauf, die großen Spaltungslinien, die eine Gesellschaft durchziehen, aufzudecken sondern auch die Wählergruppen zu identifizieren, die die gleichen Werte und Einstellungen vertreten und deswegen – wenn die Methode empirische funktioniert – relativ ähnliche Wahlpräferenzen aufweisen. Diese Methode zielt somit darauf, zu verstehen, wie der Wahlraum der verschiedenen politischen Kräfte konstituiert ist, wo sich die Konkurrenz zwischen den politischen Parteien ausspielt, wie sich Kräfteverhältnisse verschieben und aus welchen Gründen. Sie identifiziert Gruppen von Wählern, die sehr scharfe und radikale Positionen zu den großen, spaltenden Kontroversen vertreten, ebenso wie Gruppen mit moderaten oder unentschiedenen Positionen. Die Untersuchung der Wahl nach gesellschaftlichen Cleavages bietet somit ein Werkzeug, um den Grad der politischen Polarisierung einer Gesellschaft zu messen.
Wie in anderen Ländern ist die Spaltung über gesellschaftlichen Werte in Deutschland entscheidend
Die Analyse der Umfrageergebnisse entlang von dreißig spaltenden Indikatoren erlaubt es, zwei wichtige Makro-Spaltungslinien zu identifizieren.
Eine erste große Konfliktlinie betrifft gesellschaftliche und Identitätsthemen. An ihrer stehen die migrationsfeindlichen, ökologiefeindlichen, autoritären, islamophoben und oft europaskeptischen und russlandfreundlichen Wähler jenen mit entgegengesetzten Einstellungen gegenüber – Wähler, die aufgeschlossen gegenüber Migration, ökologisch orientiert, tolerant gegenüber dem Islam, offen für Vielfalt sind und feministische Ansichten vertreten. Diese Spaltungslinie ist – mit kleineren nationalen Abweichungen – in allen untersuchten Ländern vorzufinden. Sie trägt den größten Anteil an der Polarisierung und Fragmentierung der europäischen Gesellschaften, indem sie den extremen Polen, multikulturalistische und progressive Gruppen (und solchen die es zunehmend sind) auf der einen Seite den identitären und konservativen Gruppen (und solchen, die in diese Richtung tendieren) auf der anderen Seite gegenübergestellt. Diese Bruchlinie ist bei weitem die entscheidendste geworden und entspricht global dem von Ronald Inglehart in den 1970ern beschriebenen Konflikt über „postmaterialistische Werte”.
Eine deutsche Besonderheit besteht hingegen in der herausragenden Bedeutung des Umweltschutzes für diesen Konflikt. In allen Ländern, die wir untersucht haben, verbinden sich ökologische Fragen mit identitären Themen und Werten. In allen untersuchten Ländern sind ökologische mit progressiven Haltungen assoziiert, wohingegen Klimawandelrelativismus und -skeptizismus im Verbund mit konservativen Haltungen auftreten. Doch nirgendwo ist der Umweltschutz so polarisierend und bedeutend wie in Deutschland. Von den vier markantesten der dreißig untersuchten Indikatoren, betreffen zwei Migrationsfragen und die zwei anderen den Umweltschutz. Daraus lassen sich die Themen ableiten, die Themen, die am stärksten zur Spaltung der deutschen Gesellschaft beitragen.
Diese polarisierende Kraft ökologischer Anliegen, vor allem Fragen der Energieversorgung und dem Umgang mit Nuklearenergie und Kohlekraftwerken, erklärt sich zunächst durch die Position der ökologischen Partei im politischen Raum, doch sie ist auch mit politischen Entscheidungen im Bereich der ökologischen Transformation verbunden. Erinnern wir uns, dass Deutschland ein Vorreiter im Feld der politischen Ökologie ist. Die Grünen sind seit den 1980ern ein Vorbild für die übrigen ökologischen Bewegungen in Europa. Deutschland ist auch eines der Länder, die in der energetischen Transformation besonders weit gegangen sind, mit dem Beschluss eines Programmes zur Schließung der Kernkraftwerke und dem Ziel, diese durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Zudem ist es ein Land, in dem man sich über groß angelegte Politiken zur Energiewende gestritten hat und weiterhin streitet. In einem Land, in dem die Automobilindustrie einen der wichtigsten Wirtschaftszweige darstellt, spaltet das kommende Verbot von Verbrennermotoren sehr stark, das bestätigt eines unserer Testitems. Ebenfalls aufschlussreich ist, dass die Fragen in Bezug auf das Verbot zum Einbau neuer Gas- und Ölheizungen ab 2024 Auslöser eine lebhafte gesellschaftliche Debatte und ein Grund für Spannungen in der Ampelkoalition, vor allem zwischen den Grünen und der FDP, waren. In diesem Kontext ist es wenig überraschend, dass sich die FDP angesichts der Forderungen der Grünen als Partei der Autofahrer positioniert hat und dass die AfD heute zweifellos eine der ökologiefeindlichsten und klimaskeptischsten Parteien in Europa ist.
Eine zweite, wenn auch etwas weniger hervorstechende Konfliktlinie, betrifft soziale und fiskalische Themen. Sie konfrontiert Wähler, die Steuererhöhungen, Umverteilungsmaßnahmen und Sozialhilfen ablehnen, mit jenen, die sich für Umverteilung und staatliche Unterstützungsleistungen aussprechen. Diese zweite Konfliktlinie speist sich auch aus den elitären Haltungen gegenüber “Degagisten”, “Systemkritikern” und “Autoritären”. In Summe handelt dieser zweite Konflikt von ökonomisch-liberalen Werten und dem Verhältnis zum System.
Die beiden soeben beschriebenen Konfliktlinien sind bei weitem die bedeutsamsten (vor allem die erste) mit dem größten Erklärungswert für die Entscheidung der deutschen Wähler. Unsere Methode verbindet im Folgenden die Wähler, die geteilte Einstellungen vertreten, mit Positionierungen in diesen Konflikten. Als “elektoralen Cluster” bezeichnen wir eine Wählergruppe, die auf denselben Seiten unterschiedlicher Konfliktlinien steht und ein ähnliches Maß an Radikalität (bzw. Moderation) aufweist. Im deutschen, genau wie im französischen, italienischen und spanischen Fall, haben wir entschieden, die Wähler in 16 Gruppen (Cluster, Tab. 6) einzuteilen. Eine detaillierte Darstellung der Gruppen findet sich auf den jeweiligen Seiten der Cluster 17 Website.
Eine zunehmende Polarisierung?
Die Positionen der Befragten zu den Polarisierungsindikatoren bestätigen, dass Deutschland, entgegen gewisser, noch sehr verbreiteter Vorurteile, ein entlang mehrerer Themen gespaltenes Land ist; ein Land, dessen Bruchlinien sich nicht so sehr von jenen unterscheiden, die man in anderen europäischen Ländern und zweifelsohne in Donald Trumps USA beobachten kann. Mithin scheint die Intensität der Konfliktlinien weniger ausgeprägt als in Spanien oder Frankreich. Da wir nicht über longitudinalen Daten verfügen, ist es schwierig einzuschätzen, ob sich diese Polarisierung verstärkt. Doch scheint die Clusteranalyse der elektoralen Dynamik eine polarisierende Entwicklung der deutschen Gesellschaft zu bestätigen.
Je mehr eine Gesellschaft gespalten und polarisiert ist, desto rigider segmentiert sich das politische Feld entlang der markantesten Konfliktlinien. In unsere analytischen Kategorien übersetzt sich dies durch Cluster mit zunehmender politischer Homogenität, die sich tendenziell ausschließlich nach links, zur Mitte oder nach rechts orientieren, oder, wenn es das politische Angebot erlaubt, zur radikalen Linken bzw. Rechten. Spanien bietet ein gutes Beispiel für eine solche Situation: Abgesehen von Regionen mit starken separatistischen Bewegungen zeigt sich dort eine starke Bipolarisierung der Politik, mit wenig Wettbewerb zwischen den Linken auf der einen und den Rechten auf der anderen Seite. In Clustern ausgedrückt, waren bei den Parlamentswahlen 2023 nur drei der sechzehn Gruppen von PSOE (Partido Socialista Obrero Español, dt.: Spanische Sozialitsiche Arbeiterpartei) und der PP (Partido Popular, dt.: Volkspartei) umkämpft. Ein weiterer Indikator der spanischen Polarisation ist der Erfolg der radikalen Kräfte in den besonders progressiven und besonders konservativen Clustern: Podemos und Sumar auf der linken und Vox auf der rechten Seite.
Die Einteilung der deutschen Wählerschaft in Cluster bietet einen ganz anderen Eindruck. Die Stimmen für die beiden großen historischen Kräfte SPD und Union liegen quer zu den Clustergrenzen, in anderen Worten sind sie deutlich weniger in ideologisch klar umrissenen Räumen lokalisiert.
Die Darstellung der Abstimmungsergebnisse bei der Bundestagswahl 2021 nach Cluster kann dies illustrieren (Tab. 7). In dieser Wahl hat die SPD mehr als 20% der Stimmen in neun der 16 Cluster gewonnen und mehr als 10% in 13 der 16 Cluster. In ähnlicher Weise hat die Union in den Europawahlen 2024 in zwölf von 16 Clustern mindestens 20% der Stimmen erreicht, das sind alle außer drei Clustern auf der linken Seite der progressiven und ökologischen Axe und ein sehr konservativer und systemkritischen Cluster, in dem die AfD besonders stark ist. Eine derart transversale, clusterübergreifende Stimmenverteilung findet sich weder in Spanien, noch in Frankreich oder Italien. Diese Transversalität hat eine bedeutende Folge für die Wahl: in sechs Clustern besteht eine sehr starke Konkurrenz zwischen SPD und CDU/CSU und 10 der 16 Cluster sind mindestens umkämpft, weil die rechten und die linken Mitteparteien hier beide mehr als 15% der Stimmen erreichen.
Doch die derzeitigen Tendenzen könnten, wenn sie sich nicht nur am kommenden Sonntag, sondern auch in den folgenden Jahren bestätigen, in Zukunft ein anderes Bild zeigen.
In unserer Ende Januar durchgeführten „Wahlabsichten“-Umfrage messen wir eine Abnahme dieser Transversalität der Stimmen. Drei Wochen vor der Wahl bleiben nur 8 von 16 Clustern zu verschiedenem Grad umstritten zwischen der Linken und der Rechten (Tab. 9). Anders interpretiert, zeigt dies, dass sich in der Hälfte der Cluster die Konkurrenz ausschließlich innerhalb der Linken oder, am anderen Pol, der Rechten abspielt. Diese Entwicklung passt zu einer zunehmenden Polarisierung: sie ergibt sich primär aus einem Verschwinden der Linken, im Fall der SPD, aus den drei Clustern rechts der Konfliktlinie zu sozialen Themen: Rebellen, Konservativen und Antisystem-Gruppe. Dieser Rückzug der Linken, von dem vor allem die AfD profitiert, ist vielleicht die Folge einer Radikalisierung dieses Segments der Wählerschaft über Themen wie Migration und Umweltschutz, die, wie oben gezeigt, besonders bedeutsam für den deutschen Kontext sind.
Wie dem auch sei, scheint der Vergleich der Stimmenverteilung nach Cluster zwischen der Bundestagswahl 2021 (Tab. 7) und den Wahlabsichten 2025 (Tab. 9) eine zunehmende Polarisierung von Haltungen und Stimmverhalten der deutschen Wähler zu bestätigen. 2025 werden die drei progressivsten Gruppen (25% der Wählerschaft) nur noch linke Parteien wählen, während die fünf konservativsten Cluster (32% der Wähler) quasi nur noch rechte Parteien wählen werden. Daraus folgt, dass die (mehr oder weniger) polarisierten Cluster 57% des Elektorat 2025 umfassen, gegenüber nur 45% bei den letzten Bundestagswahlen.
Abschließend bleibt zu messen, welche politischen Kräfte von diesen Spaltungslogiken und der zu erwartenden Polarisierung profitieren werden.
Die Entwicklung der Kräfteverhältnissen in den Wahlen seit 2021 scheint zu bestätigen, dass die Polarisierung solche Kräfte begünstigt, die sich auf den schärfsten Positionen der Spaltungen positionieren und deren Wählerschaft am homogensten ist, während sie den Parteien mit breiten und heterogenen Koalitionen schadet.
Die AFD, die ihre Stimmenzahl von 2021 zu 2025 verdoppeln könnte, scheint die primäre Gewinnerin der aktuellen Dynamik zu sein. Der Zuwachs, den sie bei den letzten Europawahlen verbuchen konnte, und der sich am kommenden Sonntag noch verstärken dürfte, erfolgte ausschließlich innerhalb der vier konservativsten, identitätsstiftendsten und umweltfeindlichsten Gruppen: Rebellen, Konservative, Antsystem-Gruppe und Identitäre. In diesen Clustern konnte sie im Durchschnitt um 28 Prozentpunkte auf 31 %, 51 %, 70 % bzw. 57 % zulegen (Tab. 9). Im übrigen Wahlraum ist ihre Entwicklung zu vernachlässigen. Der Gewinn der AfD ist somit als Folge der Radikalisierung im konservativen Segment der Wählerschaft zu deuten. Diese Radikalisierung hat zur Folge, dass SPD und FDP (die zusammen ein Drittel der konservativen Wählerschaft auf sich vereinigen konnten) in diesem Raum praktisch verschwunden sind und der Aufschwung der CDU/CSU stark begrenzt ist, weil diese in der laufenden Wahlkampfphase von ihrer Position als Opposition unter den konservativen Wählern nicht nur nicht profitiert, sondern sogar leicht verloren hat.
Im Gegensatz dazu verzeichnet Die Linke in den progressiveren Gruppen einen starken Anstieg, Bündnis 90/ Die Grünen beständige Ergebnisse und die SPD einen leichten Rückgang. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Parteien, die am stärksten im Konflikt um Ökologie und progressive Werte positioniert sind, diejenigen sind, die sich in einem für die Linke schwierigen Umfeld am besten halten können. Der Zuwachs unter den Multikulturalisten und Progressiven hat es den Grünen ermöglicht, sich bei der letzten Europawahl zu halten. Diese aktuelle Polarisierung, die zweifellos auch auf den Vormarsch der AFD reagiert und am deutlichsten in den beiden grünsten und am weitesten links stehenden Clustern (Multikulturalisten und Progressive) erkennbar ist, erklärt sowohl die gute Dynamik der Partei Die Linke als auch, dass es den Grünen besser als der SPD gelingt, ihre Wähler von 2021 an sich zu binden.
Die Verlierer der Polarisierung sind jene historischen Kräfte, die die bundesdeutsche Demokratie seit 1949 dominiert haben. Als Musterbeispiel kann die Entwicklung der FDP dienen. Ihr katastrophaler Misserfolg bei der letzten Europawahl, der sich bei der Bundestagswahl wiederholen dürfte, ist in der Struktur ihrer Wählerschaft angelegt. Im Gegensatz zu dem, was ihr Image als „zentristische“ Partei vermuten lassen könnte, tendiert die FDP-Wählerbasis nach rechts oder sogar sehr rechts. 2021 hatte sie in der konservativsten und identitätsorientiertesten Gruppe (Patrioten) 24 % der Stimmen und in den sechs konservativsten Clustern im Durchschnitt 21 % der Stimmen erhalten (gegenüber 5 % in den sechs am weitesten links stehenden Clustern). Das zeigt, dass ihre Wählerschaft 2021 überwiegend aus Wählern bestand, die sehr umweltfeindlich, sehr wirtschaftsliberal, sehr identitätsorientiert und wertkonservativ und somit nicht bereit waren, eine von der SPD-geführte Koalition zu befürworten, die eine zu Teilen von den Grünen beeinflusste Politik verfolgte. In der Folge verlor die FDP mehr als zwei Drittel ihrer Stimmen aus dem konservativen Spektrum, überwiegend an die AfD (bei den Radikaleren) und an die CDU/CSU (in den gemäßigteren Gruppen).
Auch die SPD läuft Gefahr, zu den großen Verlierern der aktuellen Entwicklung zu gehören. Wie erwähnt, könnte sie an beiden Polen verlieren: offensichtlich auf der rechten Seite, wo die AfD von ihrem Abschwung profitiert, aber auch unter den Multikulturalisten, die scheinbar die Grünen und Die Linke vorziehen. Der SPD droht wie schon bei den Europawahlen ein hoher Preis, da sie zusätzlich im gemäßigten Cluster gegen die Union verliert, zweifellos aufgrund der Unbeliebtheit von Kanzler Olaf Scholz und seiner Koalition. In der Europawahl bescherte der Kampf der Moderaten, der Mitte und der Liberalen der CDU/CSU einen Zuwachs von fast 6 Prozentpunkten. Laut Umfragen dürfte sich dieser in den bevorstehenden Bundestagswahlen fortsetzen. Allerdings bleibt der Aufschwung begrenzt – 30 % wären das zweitschlechteste Ergebnis der Christdemokraten seit 1949 –, weil auch die CDU/CSU unter der Logik der Spaltung und der Polarisierung leidet.
Seit 2021 hat die Union in den am stärksten polarisierten Gruppen leicht verloren: Obwohl sie in der Opposition ist, könnte sie in den progressiven Gruppen und in den drei konservativsten Gruppen noch weiter absinken. Auch in den systemfeindlichen Gruppen der Herausforderer und der Rebellen ist ihr Ergebnis leicht rückläufig. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wählerbasis der CDU/CSU tendenziell auf ein gemäßigtes, liberales und elitäres Wählersegment schrumpft. Eine solche Entwicklung stimmt nicht gerade zuversichtlich, da sie wahrscheinlich bald politische Verantwortung übernehmen wird.
Abschließend lässt sich mithilfe des Clusteransatzes nachvollziehen, welche Schwierigkeiten die Bewegung von Sahra Wagenknecht hat, Wähler zu sammeln und die 5%-Hürde zu erreichen. Das politische Angebot des BSW stößt sich an der derzeit entscheidenden Meinungskluft: dem Konflikt über Identitäten und Werte. In den Gruppen, die in diesen Fragen weit links stehen, trifft die Haltung des BSW offensichtlich auf Ablehnung. Das belegen die Ergebnisse der Europawahl ebenso wie die Umfragen zur Wahlabsicht. Kaum jemand in den drei progressivsten Gruppen scheint die Absicht zu haben, für das BSW zu stimmen (Tab. 9).
Im Gegensatz dazu schneidet die AfD in den konservativen Gruppen bei Migrationsfragen oder der Ablehnung des „Wokismus“ deutlich besser ab. Deshalb ist das BSW fast nie die erste Wahl der Wähler. Sein politisches Angebot ist ausschließlich auf die zweite Konfliktlinie zugeschnitten: die Kluft in sozialen Fragen und die Ablehnung der Eliten. Das BSW vereint am ehesten die Wähler, die am stärksten an der Achse des Degagismus ausgerichtet sind und die wir vorliegend als “Aufständige“, “Herausforderer“ und „Rebellen“ bezeichnet haben (sowie ein wenig unter den “Eklektischen“). Die Schwierigkeiten des BSW, aus ihrer elektoralen Nische herauszukommen, verweisen letztlich auf heute in Deutschland wie in den meisten westlichen Ländern vorherrschenden Spaltungslogiken: Klassenkonflikte und die soziale Frage sind, zumindest vorübergehend, weniger polarisierend und mobilisierend, als Debatten zu Migration, Identität und – speziell im deutschen Kontext – Umweltschutz.