Die Metapher

Während Historiker bis vor kurzem noch davon ausgingen, dass in der frühen griechischen Sprache das Wort „Europa“ „untergehende Sonne“ bedeutete, ist man sich inzwischen einig, dass das, was die Griechen Europa nannten, einfach „der Kontinent“ war, ein Raum, der nicht eine ihrer zahllosen Inseln war. Mit der Zeit, mit kriegerischen Überfällen und Besetzungen von Gebieten, erhielt diese negative Definition eine positive Konnotation. Unter dem Einfluss der von Rom geschaffenen Mythen wurde der barbarische Kontinent schließlich zum Synonym für Zivilisation, da er dank der römischen Einwirkung mit einem zivilisierten Bereich zusammengewachsen war. Griechenland hingegen, dessen Armeen es gewagt hatten, die Festungsmauer Illions in Brand zu stecken, sah sich einem rohen Anderen gleichgesetzt, sodass Aeneas, der besiegte trojanische Prinz und mythische Gründer Roms, Rache üben konnte. Als er seinem Vater Anchises im Totenreich begegnete, vernahm Aeneas, wie der Geist den zukünftigen imperialen Ruhm Roms prophezeit.

Das Interesse an der Lektüre der Mythen kann aus mindestens zwei Motiven hervorgehen. Eines strebt danach, der Geschichte all die Bedeutungen zu entziehen, die durch einen faktischen Beweis gerechtfertigt scheinen. Dieses können wir als das “historische” Motiv bezeichnen, das im Falle des einenden Mythos vom Stier und Europa, die Verbindungen Griechenlands mit der phönizischen Zivilisation sowie mit der minoischen Gesellschaft und ihren stierkämpferischen Zeremonien zu Tage bringt. Das zweite veranlasst uns, in den Mythos Interpretationen einzuführen, die keine historische Begründung haben, sondern ihm eine noch nicht dagewesene kulturelle Bedeutung verleihen. Diese Richtung könnten wir als „fiktiv“ bezeichnen, im Sinne des scholastischen Konzepts des fictivus, das es dem Dichter oder Leser ermöglicht, über die rationale Erforschung der Realität hinauszugehen. Ein Mythos wie jener von Europa würde als Metapher für das eine oder andere dieser Motive dienen. 

Montesqieu definierte Europa als einen einzigen Staat, der aus mehreren Provinzen besteht; geeint und einem gemeinsamen Namen, würden diese “provinzialen” Nationalitäten gemeinsam einen Mythos wählen, der geeignet wäre, sie zu beschreiben 1. Der gewählte Mythos würde die von den Nationen angestrebte Hegemonie erlauben, da die Wahl eines Mythos über andere von einer gewisse imaginäre Superiorität zeugt, ein implizites imperialistisches Vorrecht, dass durch die gewählte Mythologie verliehen wird, einen Willen alte Rechte zu erhalten, die spätere Rechte legitimieren. Athene, die der Stadt Athen den Olivenbaum schenkt, der Sohn der Venus, der Pläne für die zukünftige Stadt Rom empfängt, Odysseus, der Lissabon begründet, so viele Mythen verleihen den Athenern, den Römern, den Portugiesen implizit göttliche Vorrechte. Der Mythos der vom Stier geraubten Europa trug dazu bei, den Kollektivstaat zu beschreiben, den Montesquieu sich als Gesellschaft unter der Schirmherrschaft einer Gründungsfigur, Europa, gewählt inter mulieribus durch den höchsten Gott des Olymps, vorstellte. 

Ein Mythos ist eine Erzählung, die im Laufe der Zeit eine metaphorische Bedeutung erlangt, welche die individuelle Vorstellungswelt des Lesers transzendiert. Ob aus historischen Ereignissen, aus unbewussten Träumen oder bewussten Träumereien entstanden, findet er seinen Niederschlag in der Vorstellungswelt einer Gesellschaft in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, bis er in geheimnisvoller Weise seine Kraft verliert und verschwindet.

Alberto Manguel

Ein Mythos ist eine Erzählung, die im Laufe der Zeit eine metaphorische Bedeutung erlangt, welche die individuelle Vorstellungswelt des Lesers transzendiert. Ob aus historischen Ereignissen, aus unbewussten Träumen oder bewussten Träumereien entstanden, findet er seinen Niederschlag in der Vorstellungswelt einer Gesellschaft in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, bis er in geheimnisvoller Weise seine Kraft verliert und verschwindet. Einige Mythen haben ein längeres Leben als ihre Geschwister, andere unterlaufen so tiefgreifende Veränderungen, dass sie fast unkenntlich werden, sodass es möglich ist, den Mythos als Produkt der Vorstellungskraft eines Poeten zu begreifen, das durch die Vorstellungen der Gesellschaft, in der er zu Gast ist,  in ein Emblem oder eine Metapher der betrefflichen Gesellschaft verwandelt wird.

Die Mythen werden entsprechend der Bedürfnisse einer bestimmten Zeit und eines Ortes umgewandelt, geändert, aufgegriffen und in Metaphern überführt. Doch der Mythos, so sehr er auch verändert sein mag, bleibt in seinem Wesen an sich gleich, weil seine Entstehung keinem willkürlichen Einfall entspringt, sondern eine konkrete Manifestation bestimmter gesellschaftlicher und individueller Ur-Intuitionen darstellt. “Mythen faszinieren uns”, so der Jungianer Craig Stephenson, “weil ihre Erzählungen tiefer reichen als die simple Erzählung einer schönen Geschichte. Man spürt, dass sie mit einer Bedeutung aufgeladen sind, die zugleich elementar und geteilt ist. Dass Mythen leben und sterben, kommen und gehen, ist zweifelsohne nicht überraschend, denn sie könnten in einer gewissen Version oder einem gewissen Kontext ihre Festigkeit und ihre Bedeutung verlieren. Doch was genau passiert, wenn ein Mythos erscheint, verschwindet und dann immer wieder und wieder auftaucht, als ob er sich der Zeit widersetzt, als ob er seine Bedeutsamkeit bekräftigt? Besitzt ein Mythos nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Kraft oder Eindringlichkeit?”2

Nachleben3 eines Mythos

Wenn sie auch den Mythos verkleiden kann, so kann die fiktive Intention niemals das anzestrale, ja archetypische, Skelett vernichten. Die Geschichte Europas, vermutlich erstmals in der Bronzezeit ersonnen, wurde von Ovid in Rom mit einer Form bedacht, die ihr Popularität verschaffte4. Was auch die ursprüngliche Geschichte des jungen Mädchen und des Stiers gewesen sein mag, durch die Version Ovids wurde sie die Erzählung einer Transformation, der Jungfrau Europa in die Sexualpartnerin des Zeus, von der Prinzessin zur Königin und Mutter von Königen, von der  Einheimischen eines Landes zur zwangsweisen Migrantin, wodurch die Aufnahme in die Metamorphosen begründet ist, das Buch welches implizit die Überführung des griechischen Imaginären in ein römisches.

Der Name des Mythos variiert, je nachdem, in welcher Sprache er erzählt wird: “rape” im Englischen oder “rapto” im Spanischen verweisen auf die physische Gewalt, nicht nur die Entführung. Das deutsche “Entführung” und das französische “enlèvement” implizieren nicht unbedingt eine Vergewaltigung. Allerdings doch, wenn es um Zeus geht: der Gott des Olymps war dafür bekannt, mindestens ein halbes Dutzend Vergewaltigungen begangen zu haben, in den meisten Fällen mit dem Ergebnis, dass die vergewaltigte Frau nachträglich die Früchte dieses Verbrechens annahm: Ihre Kinder wurden zu Helden, die manchmal mit Unsterblichkeit ausgestattet waren5. In der griechischen Vorstellungswelt wurde die Vergewaltigung durch einen Gott an ihren Folgen gemessen.

Die Pfeile des Eros können auch zur einer Transposition des erotischen Aktes auf die Ebene der Ideen führen; im Falles Europas wird diese Idee zu einer kontinentalen Identität. 

Alberto Manguel

Die poetische Vorstellung – Zeus gesegnet von Eros – hat einen erotischen Akt heraufbeschworen, ebenso gewaltvoll wie schuldbeladen, der die Beherrschung eines gesamten Kontinent zur Folge haben würde. Die Pfeile des Eros können einen Liebeswahn entfesseln und an ein zufällig gewähltes Objekt binden, wie es sich in der Weise zeigt, in der seine eigene Mutter den Reizen des Adonis verfällt. In dem Fall, dass das geliebte Wesen sich seinem Liebhaber, dem Opfer der Liebe, despektierlich zeigt, kann es die Strafe von Eros Bruder, Anteros, erfahren (wie in der Legende, die Cicero in De natura deorum berichtet)6. Die Pfeile des Eros können auch zur einer Transposition des erotischen Aktes auf die Ebene der Ideen führen; im Falles Europas wird diese Idee zu einer kontinentalen Identität. 

Imagination und Anima

Mythen entstehen in der Stille. Wenn Ovid erklärt, dass die Geschichten, die er singen wird, den Göttern entboren sind, erklärt er wie am Anfang nicht war, außer der ruhigen Masse der Natur, weder gestaltet, noch eingezäunt. Dieser Masse haucht Gott, “welcher Gott es auch gewesen sein mag”, seinen Atem ein und erschafft die Winde. Der Eeste Mythos war demnach der einer Metamorphose der Welt, ihres Übergangs von Schweigen zu Sprache: es ist nicht am Anfang sondern nach dem Anfang, dass das Wort beginnt: erinnern wir uns, dass in Phönizien, dem heimatlichen Königreichs Europas das Alphabet entstand. 

Expliziter als Ovid bestätigt der Schöpfungsmythos, wie er im Buch Genesis niedergelegt ist, dass die Worte später gekommen sind, als die Dinge, die sie bezeichnen. Nach der er Adam “aus dem Staub der Erde” geformt und ihn in einem Garten östlich von Eden gesetzt hat, macht sich Gott daran alle Tiere der Felder und Vögel der Himmel zu schaffen und bringt sie zu Adam, um zu sehen, wie dieser sie benennt; und welchen Namen auch immer Adam jedem Lebewesen gab, „so war sein Name“. Über Jahrhunderte hinweg haben sich Forscher über diesen merkwürdigen Austausch gewundert. War Eden ein Ort an dem nichts einen Namen hatte und war Adam damit beauftragt, Namen für die Dinge und Kreaturen zu finden, die er vor sich sah?  Oder hatten die von Gott geschaffenen Tiere eigentlich Namen, die Adam, auf die ein oder andere Art kennen sollte und die er laut aussprechen musste, ähnlich eines Kindes, das einen Hund oder den Mond zum ersten Mal sieht? Der Genesismythos lässt mindestens zwei Lesarten zu. Die zweite verknüpft die Sprache mit Erziehung und Gedächtnis; die Implikationen der ersten sind noch weitreichender. 

Wie entsteht ein Mythos ? 

Die Schwierigkeit einer solchen Untersuchung besteht einerseits darin, dass das Problem der Vorstellung das scholastische Postulat missachtet, wonach “Nihil est causa sui ipsum” (“Nichts ist Grund seiner selbst”). Sich etwas auszudenken erfordert die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, eine Fähigkeit, die unserem Verständnis nach sich mit der Fähigkeit zu verstehen vermischt. Vorstellen, Verstehen, Argumentieren, Nachdenken und Erwägen sind eine Reihe von Fähigkeiten, die wir dem menschlichen Gehirn zuordnen, die aber, um auf individueller und kollektiver Ebene verstanden zu werden, im Gehirn die Festlegung eines Standpunkts erfordern, eines festen Ausgangspunkts als betroffener Teil der Frage selbst. Eine Frage zu stellen erfordert diverse Festlegungen im Vokabular dieser Frage und schafft damit einen epistemologischen Zirkelschluss; um eine Antwort zu erhalten, muss dieser Zirkel durchbrochen werden. 

Gegen Ende der sechziger Jahre veröffentlichte Jorge Luis Borges eine Novelle, “David Brodies Bericht”, in welcher der Erzähler – ein schottischer Missionar – die Brauchtümer eines primitiven Stammes, der Yahoo, so benannt in Hommage an Gullivers Reisen, erklärt. Er berichtet, dass eine Sitte des Stammes darin besteht, Dichter aufzuspüren. „Sechs oder sieben Worte, üblicherweise enigmatisch, können einem Menschen in den Sinn kommen. Unfähig sich zurückzuhalten wird dieser sie mit lauter Stimme deklamieren, aufrecht im Zentrum eines Kreises, der von auf dem Boden ausgestreckten Zauberern und anderen Gruppenmitgliedern gebildet wird. Wenn das Gedicht sie nicht bewegt, geschieht nichts, doch wenn die Worte des Poeten sie rührt, entfernen sich alle von ihm, ohne Geräusch, ergriffen von einem heiligen Grauen. Da sie spüren, dass der Geist ihn berührt hat, wird niemand mehr mit ihm sprechen oder ihm einen Blick zuwerfen, nicht einmal seine Mutter. Er ist kein Mensch mehr, sondern ein Gott und jeder hat das Recht ihn zu töten.7

Nach dem Vorbild unserer fernen Vorfahren, um ein Feuer in ihren Höhlen versammelt, haben wir immer das Bedürfnis verspürt, “sechs oder sieben Worte” zusammenzunehmen um jene unaussprechlichen Erfahrungen zu kommunizieren, die wir erleben. Und wie bei den Yahoo-Poeten geschieht zumeist “nichts”. Die Worte, die wir aussprechen, rühren nicht, begeistern jene, die ihnen lauschen, nicht und einmal niedergeschrieben, in den Gesellschaften die vor sechstausend Jahren angefangen haben zu schreiben, werden diese unbelebten Worte in Bibliotheken verbannt wo sie in stiller Hoffnung auf die Ankunft ihrer Erlöser warten, bei denen sie eines Tages ein Wiedererkennen auslösen können. Die Literatur – Kunst – verfügt über unendliche Geduld. 

So wie wir sie individuell erfahren, erscheint die Vorstellungskraft durch intimere Bindungen – an eine Landschaft, eine Sprache, eine bestimmte Mythologie – geprägt,  so dass sie, wenn sie dieser Bindungen beraubt wird, schwächer wird und verkümmert.

Alberto Manguel

Als Träger stellvertretender Erfahrungen bieten die “sechs oder sieben Worte” Identitätsansätze, die gleichermaßen persönlich wie spezifisch für die Mitglieder einer gegebenen sozialen Gruppe sind. Es könnte durchaus sein, dass trotz des Bemühens um Kosmopolitismus und des Wunsches, Grenzen zu ignorieren, die Vorstellungskraft endemischer Natur ist. Nicht im Sinne einer reduktionistischen Beschränkung, die behauptet, dass Sinn nur ausschließlich außerhalb des Gehirns existiert, sondern im Gegenteil durch Eingeständnis der Tatsache, dass die Vorstellungskraft sich unterbewusst zu bestimmten Objekten hingezogen fühlt und in gewissen Räumen eine obskure, anzestrale Vertrautheit erkennt, die das entstehen lässt, was der amerikanische Forscher Daniel Dennett als “competence without comprehension8” bezeichnet. Die Vorstellungskraft ist nicht nur Angelegenheit universeller Hierarchien: Raum- und Zeit-Koordinaten, chromatische Spektren, emotionale oder sexuelle Reaktionen. So wie wir sie individuell erfahren, erscheint die Vorstellungskraft durch intimere Bindungen – an eine Landschaft, eine Sprache, eine bestimmte Mythologie – geprägt,  so dass sie, wenn sie dieser Bindungen beraubt wird, schwächer wird und verkümmert. Nostalgie, ein Begriff, der 1688 vom elsässischen Arzt Johannes Hofer geschaffen wurde, ist der klassische Ausdruck solcher Verluste. Unter welcher Konstellation von Mythen könnten wir also träumen ? 

In einer Untersuchung der langfristigen Bedeutung der Mythen als Früchte der Einbildung vergleicht Roberto Calasso den Mythos mit einem einzelnen Zweig eines riesigen Baumes. “Um ihn zu verstehen”, sagt er, “muss man eine gewisse Wahrnehmung des gesamten Baumes und der vielen Verzweigungen die darin versteckt sind haben. Doch der Baum ist nicht mehr da, scharfe Äxte haben ihn abgeschlagen”9

Der Mythos, eine Übersetzung 

Mythen sind nicht nur Spiegel sondern Spiegelgalerien. Wenn wir in sie eindringen, werden sie zu Denksystemen, die sich in Richtung einer äußeren Welt verzweigen und Erdhöhlen der Aufklärung, die sich ins Unbewusste eingraben. Wir konstruieren sie, um uns vom Traum zum Wachzustand und von der Empfindung zur Erfahrung bewegen zu können und würden wir uns dafür entscheiden, sie aufzugeben, würden wir uns im wahrsten Sinne des Wortes ohne Wissen wiederfinden.

Die vielfältigen Lesarten bestimmter Mythen bilden den Prüfstein, ausgehend von dem den Völkern Europas eine ebenso intuitive wie wandelbare Persona, ein gemeinsamer Ursprung und eine gemeinsame Sprache verliehen wurden. Durch seine Wandungen, Übersetzungen und Migrationen bietet jeder Mythos unterschiedlichen Gesellschaften eine assoziative Funktion, während er Zeit und Raum durchquert. Ein Mythos mit uralten Wurzeln kann sich auf die Gegenwart beziehen, wenn etwas in seiner Essenz zu dem Individuum oder der Gesellschaft spricht, die entschieden hat, mit ihm in Dialog zu treten. 

Europa ist ein instabiles Konzept, eine geographische, demographische und politische Konfiguration, deren konstituierende Bestandteile nicht aufhören, sich zu verwandeln. Das Europa des imperialen Roms ist nicht das von Dante; das Europa von Erasmus und Descartes ist nicht das von Goethe.

Alberto Manguel

Der Fall der europäischen Identität ist ein besonderer. Europa ist ein instabiles Konzept, eine geographische, demographische und politische Konfiguration, deren konstituierende Bestandteile nicht aufhören, sich zu verwandeln. Das Europa des imperialen Roms ist nicht das von Dante; das Europa von Erasmus und Descartes ist nicht das von Goethe. Wenn man Voltaire glaubt, so hat der Enkel von Ludwig XIV , als er den spanischen Thron bestieg, in dem Bewusstsein, dass die Geographie eine Konstruktion ist, verkündet: “Es gibt keine Pyrenäen mehr!”10 Dieser Tage wird die europäische Identität zwischen mindestens zwei Fragen abgewogen: Sollte die Türkei als europäischer Staat betrachtet werden, und sollte man Großbritannien erlauben, diese Identität aufzugeben?

“Jeder europäische Schriftsteller ist ‘Sklave seiner Taufe’”, erklärte Julio Cortázar, “wenn ich Rimbaud paraphrasieren darf. Ob er es will oder nicht, bringt seine Entscheidung zu schreiben die Last einer immensen, ja furchteinflößenden, Tradition mit sich; ob er sie akzeptiert oder gegen sie aufbegehrt, diese Tradition bewohnt ihn, sie ist seine Vertraute oder sein Inkubus.11” Heute sieht sich diese Tradition mit dem Mythos von Europa konfrontiert, in einem kulturellen Kontext, der eine Reihe von Tatsachen erkannt hat (aber sicher nicht ausgemerzt), als da sind: die von den Kolonisatoren abzuleistende Schuld im Lichte des Postkolonialismus, die Anerkenung der Vergewaltigung als Kriegswaffe, die enorme Frage der Geflüchteten und der ökonomischen Migranten. Besonders Europas Status als Identität wird beständig durch neue Sichtweisen in Frage gestellt. Und dennoch ist sie in gewisser Weise größtenteils erhalten geblieben. Bereits 1871 warnte der portugiesische Poet Antero de Quental vor einer sklavischen Unterwerfung unter die Tradition, die durch den Wunsch motiviert ist, Teil dessen zu sein, was er “das kultivierte Europa” nannte. “Respektieren wir das Gedächtnis unserer Vorfahren, erinnern wir uns andächtig ihrer Taten, doch imitieren wir sie nicht. Lasst uns nicht im Lichte des 19. Jahrhunderts die Gespenster eines dem 16. Jahrhunderts entliehenen Lebens sein. Diesem tödlichen Geist wollen wir offen den Geist von heute entgegenstellen.12

Eine Frage drängt sich auf: Was ist dieser “heutige Geist” im Kontext des uralten Mythos von Europa und ihrem verliebten Stier? Wo stehen wir gegenwärtig, in diesem einundzwanzigsten Jahrhundert, mit unserer Lektüre des Mythos und seiner Verwendung als Metapher? Umberto Eco behauptete bekanntlich, dass die Sprache Europas die Übersetzung sei. Aber Übersetzung von was und in welche Sprache? Um Fausts Verzweiflung über die Sinnlosigkeit akademischen Wissens zu verdeutlichen, beauftragt Goethe den Gelehrten mit dem Versuch, den ersten Vers des Johannesevangeliums ins Deutsche zu übersetzen. Der entscheidende Punkt der Szene ist der Moment, in dem Faust versucht, die Bedeutung des Wortes Wort zu erfassen, das Luther aus dem altgriechischen Logos übersetzt hat, ein Begriff der im Französischen traditionell mit Verbe übersetzt wird.

Faust sagt : 

Geschrieben steht: „im Anfang war das Wort!
“Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabey nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rath
Und schreibe getrost: im Anfang war die That!13

Diese drei Bedeutungen sind in dem Begriff Logos und in jeder Übersetzung enthalten. Sinn belebt Zeus, so wie er Europa belebt,  im einen Fall, indem er Zeus dazu bringt, sich vorzustellen, wie er das Mädchen entführen könnte, und im anderen Fall, indem er ihr hilft, sich (zu spät) der von dem Gott eingefädelten List bewusst zu werden; Kraft, die es Zeus erlaubt, seinen Willen durchzusetzen und di nach ihrer Ankunft auf dem Festland auch der vergewaltigten Europa gewährt wird; Tat ist die Zusammenfassung des Mythos, die Durchführung einer Entführung als Metapher für Wanderung, Ankunft und Gründung, wobei jedes Ding durch seine Bewegung zu einem anderen wird. Entführung, Metamorphose, Metapher, Übersetzung: so viele Begriffe, die den Übergang von einer Existenzweise in eine andere beschreiben, das was Nietzsche mit Verweis auf Europa, als “Zustand des Werdens”14 beschreibt. In diesem Sinne ist der Mythos Europas selbst eine perfekte Metapher der Geschichte, die er zu erzählen vorgibt, ein Mythos der die Übersetzung zum Thema und zum Gegenstand hat. 

Jede Übersetzung ist eine Affirmation. Übersetzen bedeutet, die Identität eines Textes aus einem Verband von semantischer Zeichen in einen anderen zu transportieren um seine ursprüngliche Identität unter einer anderen und dennoch gleichwertigen Form zu bestätigen und wiederherzustellen; ein bescheidener Akt der Transsubstantiation, der die Substanz des Textes in einer ebenso wundersamen wie konkreten Geste umwandelt und durch den sich die Gültigkeit der Sprache selbst bestätigt. 

Jede Übersetzung ist eine Affirmation. Übersetzen bedeutet, die Identität eines Textes aus einem Verband von semantischer Zeichen in einen anderen zu transportieren um seine ursprüngliche Identität unter einer anderen und dennoch gleichwertigen Form zu bestätigen und wiederherzustellen; ein bescheidener Akt der Transsubstantiation, der die Substanz des Textes in einer ebenso wundersamen wie konkreten Geste umwandelt und durch den sich die Gültigkeit der Sprache selbst bestätigt. 

Alberto Manguel

“Dessenungeachtet scheint es mir,” sagt Don Quixote, “daß das Übersetzen aus einer Sprache in die andere, wenn es nicht aus den Königinnen der Sprachen, der griechischen und lateinischen, geschieht, sich so verhält, als wenn man die flamändischen Tapeten auf der unrechten Seite sieht, denn ob sich gleich die Figuren zeigen, so sind sie doch voller Fäden, die sie entstellen, und sie zeigen sich nicht in der Schönheit und Vollkommenheit wie auf der rechten Seite15”. Eine Übersetzung ist somit eine Affirmation, die mit der Evidenz der durchlebten Transformation beschwert ist, die sich bewusst ist, dass sie die Wendung des Originals verloren hat, aber weiß, dass sie ungeachtet der sichtbaren Fäden immer noch ihren Ursprungsort erkennt. Europa bleibt, von einem Ende zum anderen, jene, die das verlassene phönizische Königreich definiert oder, um die Worte Dantes aufzugreifen: der Ort, “wo süße Last Europa ward16”.

Die Übersetzung ist auch ein Dialog. Sie kann eine kritische Reaktion des Übersetzers auf den Originaltext zulassen, was manchmal zu der Versuchung führt, den Originaltext zu „sterilisieren“, wie im Falle jener Übersetzer aus dem Griechischen und Lateinischen, die im 19. Jahrhundert gleichgeschlechtliche Liebende in heterosexuelle Paare verwandelten17; manchmal nahmen sie stilistische „Veredelungen“ vor, wie ein Arno Schmidt, der die schwülstigen Romane von Edward Bulwer-Lytton ins Deutsche übersetzte; manchmal fügten sie in den übersetzten Text eigene Passagen ein. Augustinus beruft sich in einem Text über die Doppelnatur der Seele auf das Recht oder Pflicht “die andere Seite anzuhören18”, audi partem alterami, ein Rechtsprinzip, das vom Europarat erst 2004, siebzehn Jahrhunderte nach Augustinus, durch eine offizielle Empfehlung angenommen wurde, die dieses Recht so definiert, dass es jedem „die Möglichkeit gibt, auf Medienberichte zu reagieren, die falsche Tatsachen darstellen […] und seine persönlichen Rechte beeinträchtigen19„. In einem Werk mit dem Titel Involontary Dislocation verteidigt Renos K. Papadopolous die Auffassung, dass die andere Seite „nur in einer Sprache ausgedrückt werden kann, die in der Lage ist, die Mehrdeutigkeiten, das Schweigen und die Dilemmata sowie den algos (Schmerz) der Sehnsucht nach einem unbekannten nostos [Heimweh] im Rahmen einer gewählten Raumzeit wiederzugeben. Es wäre also keineswegs übertrieben, diese ‘andere Sprache’ als poetisch zu bezeichnen“. Papadopoulos schloss: „Die ‚andere Sprache‘ ist das, was man zu artikulieren versucht, wenn man von schweren Formen der Unglücks bis ins Mark seines Wesens erschüttert wird.20

Ich komme nun zum Schluss. Auf einem langen und kurvigen Weg habe ich versucht, die heikle Frage der Identität Europas zu erkunden. Ausgehend vom griechischen Mythos habe ich mich gefragt, wie eine Erzählung zum Mythos wird und wie ein wiedererlangter Mythos zur Metapher einer Identität werden kann, wie dieser Prozess vor sich geht und im Geist abläuft und und wie die Vorstellungskraft funktioniert um Erzählungen zu erschaffen, unter Berücksichtigung bestimmter physiologischer Indizien und bestimmter poetischer Intuitionen. Und schließlich, mit der Frage, ob der Begriff der Übersetzung dazu beitragen könnte, zumindest einen Teil des Vorgangs zu erklären, habe ich einen Punkt erreicht, der zweifelsohne keine abschließende Erkenntnis ist. Doch Flaubert tröstet mich, wenn er schreibt “die Erkenntnis scheint mir zu meist ein dummer Akt.21

Kurz nach seiner erzwungenen Verbannung 1302, in die er womöglich nichts mit sich nahm als einige Entwürfe des Gedichts, dass er in seiner Muttersprache verfasste, versuchte Dante, Europa zu definieren, dieses Drittel der dreigeteilten Welt, von dem die italienischen Staaten und sein geliebtes Florenz, einen Teil ausmachten. Dafür griff Dante auf ein Wort zurück, dass Jahrhunderte später James Joyce, fieberhafter Dankte-Leser für seine Beatrice, Molly, wählte: “Ja”.

“In dieser gesamten Region, die sich von der Mündung der Donau (oder dem Meotidischen Sumpf) bis zu den östlichen Ufern Englands ausdehnt,” schrieb Dante in De vulgari eloquentia, “die durch die Grenzen der Italiener und der Franzosen und durch den Ozean definiert ist, herrschte eine einzige Sprache, selbst wenn sie im Folgenden durch die Slawen, die Ungarn, die Teutonen, die Sachsen, die Engländer und viele andere Nationen in viele Regionalsprachen aufgespalten wurde. Eine einzige Spur ihres gemeinsamen Ursprungs bleibt in fast allen, und zwar dass man in all den aufgeführten Nationen um zustimmend zu antworten iò sagt.22” Der Mythos von Europa beginnt mit einer Entführung, doch er endet mit einer Affirmation, Europas Übersetzung von Zeus Vergewaltigungswunsch in ihren eigenen Gründungswunsch, Übersetzung des Negativen in Positives, die Übersetzung eines Nein in ein Ja. 

Fußnoten
  1. Montesquieu, Réflexions sur la monarchie universelle en Europe [1734] Introduction et notes par Michel Porret (Genève, Droz, 2000)
  2.  Craig Stephenson, Anteros: A Forgotten Myth (London & New York, Routledge, 2012) 1
  3. Deutsch im Original.
  4.  Ovid, Metamorphosen, II : 846-875
  5. Zu den von Zeus verführten Frauen zählen auch Europe, Antiope, Callisto, Alkmene, Danaë  und Aigina. Auch der junge Ganymed fiel den Appetiten des Zeus zum Opfer.
  6. Cf. Craig Stephenson, Anteros: A Forgotten Myth, 7
  7. übersetzt nach der französischen Ausgabe: Jorge Luis Borges, « Le rapport de Brodie » in Le rapport de Brodie, übers.. Françoise Rosset in Œuvres complètes, II (Paris, Gallimard, La Pléiade, 1999) 252-253
  8. Daniel C. Dennett, From Bacteria to Bach and Back : The Evolution of Minds (New York, W. W. Norton & Co., 2017) 406
  9. « Un mito è una biforcazione in un ramo di un immenso albero. Per capirlo occorre avere una qualche percezione dell’intero albero e di un alto numero delle biforcazioni che vi si celano. Quell’albero non c’è più da lungo tempo, asce ben affilate l’hanno abbattuto. » Roberto Calasso, L’ardore (Milano, Adelphi, 2010) 450-451
  10.  Voltaire, Le siècle de Louis XIV [1753]
  11.  « Todo escritor europeo es “esclavo de su bautismo”si cabe parafrasear a Rimbaud ; lo quiera o no, su decisión de escribir comporta cargar con una inmensa y casi pavorosa tradición; la acepte o luche contra ella, esa tradición lo habita, es su familiar o su íncubo. » Julio Cortázar, La vuelta al día en ochenta mundos, vol. 2 (Mexico, Siglo XXI, 1967) 54
  12. Antero de Quental, Causas da decadência dos povos peninsulares nos trés últimos séculos: Discurso pronunciado na noite de 27 de maio na Sala do Casino Lisbonense, Préfacio de Eduardo Lourenço (Lisboa, Tinta-da-china, 2008) 93
  13. Goethe, Faust I, I.Akt, III. Szene, VV. 1224-1237
  14. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, 242, edited by Giorgio Colli and Mazzino Montinari (München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002)
  15. Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, übers. von Ludwig von Tiek, Zweiter Teil, 10.Buch, 10.Kapitel (Berlin, Rütten & Loening,1966) 439-440
  16. « nel cual si fece Europa dolce carco » Paradiso, XXVII:84, hier zitiert nach: Dante, Die Göttliche Komödie, Das Paradies, übers. von Karl Witte,  XXVII. Gesang, Vers 84 (Berlin, Askanischer Verlag 2013 [1916])
  17. Cf. John Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homsexuality : Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century (Chicago, University of Chicago Press, 1982)
  18. Augustinus, De Duabus Animabus, XlV:II
  19.  Recommendation 16.1 of the Committee of Ministers of the Council of Europe to member states on the right of reply in the new media environment (Adopted by the Committee of Ministers on 15 December 2004 at the 909th meeting of the Ministers’ Deputies)
  20. Renos K. Papadopoulos, Involuntary Dislocation : Home, Trauma, Resilience, and Adversity-Activated Development (Abingdon & New York, Routledge, 2021) 294
  21.  « La conclusion, la plupart du temps, me semble acte de bêtise. » Gustave Flaubert, « Lettre à Louise Colet du 31 mars 1853 » in Correspondance, II (Paris, Gallimard, La Pléiade, 1980) 295
  22. Dante, De vulgari eloquentia I.8.4, vorliegend übersetzt nach der französsichen Übersetzung durch den Autor dieses Textes.
Credits
© Alberto Manguel
c/o Schavelzon Graham Agencia Literaria
www.schavelzongraham.com